Synopse
Das Kurische Haff vereist in blaugrau, abgeschnitten von der Außenwelt. Gefangen in der Zwischenzeit. Der Beginn einer Reise von der Ostsee zum Schwarzen Meer. Rückblicke in die Vergangenheit. Fragen nach der Zukunft. Begleitet von Bobrowskis sarmatischen Traumgedichten. Ein Wiedersehen.
Protokoll
Es sind große Worte, mit denen Werner Ružička seinen Gesprächspartner auf der Bühne begrüßt. Volker Koepps Schaffen sei nicht nur Teil der deutschen Dokumentarfilmgeschichte, sondern längst ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Bis heute pilgerten Cineasten zum jüdischen Friedhof von Czernowitz in der Ukraine, wo die Protagonisten aus Koepps Dokumentation „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ begraben liegen. Mit dieser Einführung bringt Ružička die beiden Bewegungen auf den Punkt, die Koepps Film wie auch die Diskussion in Duisburg bestimmen. Sie lauten: Vom Individuellen zum Allgemeinen, vom Vergangenen zur Gegenwart. Denn nichts an „In Sarmatien“ steht für sich.
Koepps „Opus maximum“ (Ružička) greift die jahrzehntelange Faszination des Filmemachers für eben jenes Sarmatien auf, das weniger eine geographische Koordinate als vielmehr ein mythischer, ein „Erinnerungsort“ sei, so Ružička treffend. Zwischen Weichsel und Wolga, zwischen Ostsee und Schwarzem Meer liege dieses Land, wie es etwa eine Landkarte aus dem 15. Jahrhundert behauptet, die Koepp im Gespräch anführt. Erstmals in den 1970er Jahren machte er sich auf Spurensuche in dieser Region und ließ seine Funde in den Film „Grüße aus Sarmatien“ einfließen. Nicht nur Fragmente aus diesem Frühwerk kehren in Koepps jüngstem Film wieder. „In Sarmatien“ ist die erste Dokumentation Koepps, die mit Archivmaterial arbeitet. Vergangenheit und Gegenwart treten so immer wieder in einen Dialog miteinander.
So zum Beispiel Tanja, die 2001 dem Regisseur erzählte, dass sie nach der Schule in Czernowitz bleiben wolle, dann aber doch zum Studieren nach Deutschland ging. Beim Wiedersehen gibt Koepp seiner Gesprächspartnerin allen Raum, von ihrem Werdegang zu berichten. Damit wird die Methode sichtbar, die Koepp für „In Sarmatien“ verfolgt: Eine Region, in diesem Fall die Ukraine, wird allein über Einzelschicksale erschlossen. Koepp, der selbst als Off-Erzähler in seinem Film auftritt, macht aus seiner emotionalen Verstrickung im Gespräch mit Ružička kein Geheimnis – so mache er Filme am Liebsten über Leute, „die ich auch mag“.
Dass dieses Vorgehen ein riskantes ist, macht eine bohrende Publikumsnachfrage deutlich, die auf historische Ungenauigkeiten in Koepps Film hinweist. So hätten sich die Grenzen von Transnistrien nach dem Zweiten Weltkrieg derart verschoben, dass es mit dem historischen Ort der Judenvernichtung nichts mehr zu tun habe. Koepp will hier keine „Unterlassungssünde“ erkennen und erklärt, er habe von Transnistrien als einem „Deportationsort“ von seiner früheren Protagonistin Rosa Zuckermann erfahren. Doch im weiteren Gesprächsverlauf wird klar, dass Geschichtspädagogik gar kein Anspruch ist, der „In Sarmatien“ gerecht würde.
Auf die Nachfrage Peter Otts, wie der Regisseur seine Drehorte aussuche, entgegnet Koepp, dass Entdecken und Erleben die Triebfedern seiner dokumentarischen Arbeit seien. Die Hälfte der Drehzeit reserviert Koepp daher für „Zufallsbegegnungen“ – immer mit dem Ziel herauszufinden, „wie Menschen von Landschaften geprägt werden“. Ružička geht noch einen Schritt weiter und sieht in dem Film ganz allgemeine Fragen nach Hoffnung, dem Leben mit Ungewissheiten und der „Sehnsucht nach Glück“ aufgeworfen. Dass dieser Film, der stärker als alle früheren Arbeiten Koepps „allegorisch“ sei (Ružička), nun auf ein Publikum trifft, das seit Monaten völlig unallegorische Krisenbilder zur russischen Realpolitik gewohnt ist, beeinflusst auch die Diskussion auf der Filmwoche.
Eine Zuschauerin merkt an, dass pro-europäische Stimmen in Koepps Film so gut wie gar nicht vorkommen. Diesen Einwand will der Regisseur nicht gelten lassen. Vielmehr sei, als der Film im Frühjahr in Königsberg gezeigt wurde, seine Protagonistin Tanja von Zuschauern angegriffen worden, die ihr mangelnden Patriotismus vorwarfen. Im Film selbst sind es Tanjas Eltern, die ihr diesen Vorwurf machen. Auf diese Szene kommt auch Ružička zu sprechen und staunt über das hartnäckige und doch vergebliche Nachbohren seitens der Tochter, woran ihr Vater das denn festmache. Sucht man in Koepps Film einen Augenblick, wo der Einzelfall in ein politisches Zeitbild übergeht, dann ist es dieser Moment zwischen einer Wahleuropäerin und ihrem Vater, der sich konsequent dem Dialog entzieht.
Ružička kann sich deshalb des Eindruckes nicht verwehren, „In Sarmatien“ enhalte eine Vorahnung auf den gegenwärtigen Riss zwischen Ost- und Westeuropa, eine Unterscheidung, die eigentlich längst als überholt galt und doch selten stärker schien als heute. Nach Ružičkas These wird das Interesse an den „äußeren Landkarten“ bei veränderter Nachrichtenlage verschwinden. Was bleibt, seien die inneren Landkarten, also die Individuen, denen Koepp seinen Film gewidmet hat. Ob er diese Trennung zwischen Individuellem und Allgemeinem annehmen will, wird jeder Zuschauer selbst beantworten müssen. Wie das Filmgespräch auf der Filmwoche beweist, lohnt sich ein Nachdenken darüber gerade in Zeiten, wo die Nachrichtenlage ihre Schatten auch auf Dokumentarfilme wirft, die eigentlich nur entdecken und erleben wollen.