Film

Es sind noch Berge draußen
von Janina Herhoffer
DE 2009 | 59 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 33
03.11.2009

Diskussion
Podium: Janina Herhoffer, Sophie Narr (Dramaturgische Beratung)
Moderation: Andrea Reiter
Protokoll: Judith Funke

Synopse

Hinein in die Welt der Volksmusik. Ob in riesigen Konzerthallen oder im eigenen Wohnzimmer: Dieses musikalische Genre erzeugt Leidenschaft, Lebensfreude und ein tiefes Zugehörigkeitsgefühl. Ob Musiker oder Fan, alle sind mit vollem Herzen dabei. Ungewöhnliche Blicke auf eine besondere Lebenskultur. 

Protokoll

Im Zentrum des Films, fasst Andrea Reiter einleitend zusammen, steht die Volksmusik – als Lebensinhalt und auch als Projektionsfläche für Gefühle und Sehnsüchte. ES SIND NOCH BERGE DRAUßEN ist die erste Regiearbeit von Janina Herhoffer und ihre zweite Zusammenarbeit mit Sophie Narr.

Der Film nimmt seine Protagonisten – Musiker, Produzenten und Fans – wie auch die Musik selbst sehr ernst, stellt Reiter fest, er sieht und hört ihnen genau zu. 15 Stücke hat sie gezählt, die in voller Länge ausgespielt werden: Musik, die ausgehalten werden will/muss.

Diese Ernsthaftigkeit im Ansatz lässt Reiter einen persönlichen Bezug zum Gegenstand vermuten. Doch Herhoffers ursprüngliches Interesse rührt im Gegenteil von der „Heftigkeit der eigenen Abneigung“ her. Ein Widerwille, der von all ihren Bekannten geteilt wird und in dieser Ausprägung, so Herhoffers Ausgangsthese, nicht nur geschmackliche Gründe haben kann. Um der Sache auf den Grund zu gehen, hat die Regisseurin ihre Aversion beiseite geschoben; konsequent beschreibt sie auch in der Diskussion ihre Beobachtungen betont neutral als „bemerkenswert“. Die mit der Volksmusik verknüpfte Heimatsehnsucht etwa, vor allem aber die absolute Hingabe, die hier zum Tragen kommt, und die für Herhoffer ein ganz zentraler Aspekt des Phänomens ist.

Für die von Reiter ausgemachten fünf Kapitel des Films hat Herhoffer gezielt Protagonisten ausgewählt, die verschiedene Bereiche der Thematik abdecken (etwa Berufsmusiker, Stadt- bzw. Straßenmusiker oder Fans). Diese Menschen und ihre Musik füllen verschiedenste (Bild-)Räume – von der Konzerthalle über Heimstudio und Hobbykeller, Wohn- und Jugendzimmer bis hin zu Kirche, Wurstbude und U-Bahn-Schacht. Die mehrfach gelobte Auswahl der Orte und Bilder setzt von der „genialen Eröffnung“ (Ružička) an auf eine starke Ikonographie, so Herhoffer.

Die gesamte Dramaturgie, die Peter Ott (ausdrücklich wertfrei) als „roh“ charakterisiert, sei tatsächlich „wahnsinnig durchdacht“, betont Narr, denn es sei nötig gewesen, die Erzählung nicht linear, sondern in Themenkreisen anzulegen und dennoch einen durchgehenden Strang zu konstruieren.

Die Annäherung an die Protagonisten und das Thema sind (abgesehen von der Musik) nur über die bildliche Ebene möglich, eine bewusste Entscheidung Herhoffers, da sich alle für sie relevanten Informationen über die Bilder vermitteln. Ausgehend von ihrer Vorliebe, selbst zu entscheiden, wo sie in einem Film hinschaut, möchte sie ausreichenden Abstand wahren und so das Publikum einladen, eigenständig in ihren Bildern zu suchen. Dabei soll die weite, starre Kadrierung dem Zuschauer auch immer wieder in Erinnerung rufen, dass er einen Film sieht, möchte die Distanz bewusst machen, anstatt eine irreführende Nähe zu suggerieren. Dies darf natürlich keinesfalls mit einem höheren Grad an Inszeniertheit verwechselt werden, stellt Sophie Narr später klar; dafür muss sie sich mit dem Duisburger Publikum auch nicht streiten. Die offensichtlich für die Kamera eingerichteten Szenen haben sich aus den Gesprächen mit den Protagonisten heraus entwickelt, berichtet Herhoffer.

Die Familie, die den „Hitfamily“-Fanclub betreibt, und insbesondere ihre ausgelassene Couchgarnitur-Tanzszene legen dennoch die Frage aus dem Plenum nahe, ob man diese Menschen nicht der Lächerlichkeit preisgebe. Das Risiko, ihre Protagonisten auszustellen, ist der Regisseurin vollkommen bewusst, sie wisse schon, wie die Szene wirkt. Im Gegensatz zu den von einem Diskutanten ins Spiel gebrachten Hardrockern und anderen Musikfilm- Protagonisten habe man es hier mit Menschen zu tun, „die man scheinbar nur mit filmischer Gebrauchsanweisung zeigen darf“. Auf diese verzichtet Herhoffer jedoch absichtlich, um auch hier dem Zuschauer zu überlassen, wie er das Gezeigte auffasst. Wenn sie das Publikum zu einer Lesart einladen möchte, dann zu der, dass „das Glück, das da generiert wird“ an sich eine Existenzberechtigung habe. Doch auch in diesem Punkt polarisiert das Gezeigte offenbar, wird doch später eben dieses Glück sehr viel nüchterner als „von außen generierte Fröhlichkeit“ beschrieben.

Die Schlagerindustrie als ökonomisches Phänomen, erläutert Herhoffer eine Nachfrage, habe sie in der Einstellung mit der riesigen Konzerthalle als Thema andeuten wollen, soweit es im Rahmen der bewusst gewählten „Form, die vom Zeigen ausgeht“ eben möglich war.

Insgesamt wird in Film und Diskussion weniger streng zwischen „Volksmusik“ und „volkstümlicher Musik“ differenziert, als dies aus dem Plenum angemahnt wird. Es soll aber weniger um den Schlager gehen als um die ursprünglichere Volksmusik. In diesem Zusammenhang wird auch auf die musikalischen Fertigkeiten der Protagonisten hingewiesen. Der im Verlauf der Diskussion mehrfach angesprochene „Paria-Status“ der Volksmusik, der gerade auch im Vergleich zu anderen Ländern und Kulturkreisen frappierend ist, erklärt sich für Herhoffer unter anderem aus der deutschen Geschichte; aus dem historischen Bruch in der kulturellen Entwicklung bleibe „eine Narbe, die nicht verheilt“. Der Verweis auf die NS-Zeit erscheint auch einigen Diskutanten plausibel, darauf reduzieren lässt sich das Phänomen laut Ružička allerdings nicht.

Auch die Abwanderung vom Land in die Städte spiele eine Rolle, ein Motiv, das sich für Herhoffer auch im Echo in der Berliner Jodel-Sequenz wieder findet. Bezüglich der Generationenproblematik relativiert die Regisseurin die Einschätzungen aus dem Publikum: Es gibt sehr wohl reichlich Nachwuchs in der Volksmusik, da ist sie sich sicher: aussterben wird sie nicht.

Unter Verweis auf Adornos Analysen der populären Musik und ihrer täuschenden, zerstreuenden Elemente liest Reiter das letzte der fünf Kapitel als einen poetischen Ausblick: Die unkonforme Jodelmusik scheint eine Essenz der Musik jenseits des Massenkompatiblen offen zu legen. Eine Diskutantin zeigt sich durch diese abschließende Brechung anhaltend irritiert: Wird hier Volksmusik-Avantgarde vorgestellt, oder nicht doch eine Anleitung zu einer ironischen Lesart? Eine Ambivalenz, die die Regisseurin nicht auflösen möchte – aus ihrer Sicht betreibt die Jodelkünstlerin Doreen gleichermaßen eine Weiterentwicklung und eine Zerstörung ihrer musikalischen Wurzeln.

Als Fortführung des von Reiter erwähnten musiksoziologischen Blickwinkels des Films und auch seiner von der Musik loszulösenden, eher ethnologischen Aspekte empfiehlt Ružička an dieser Stelle eine weiter gehende wissenschaftliche Durchdringung des Gegenstands, da die Diskussion hier an ihre Grenze gelangt. Festzuhalten bleibt für ihn die ausgeprägte Freude an der Musik als ein entscheidendes Kriterium zur Bewertung des Gesehenen und Gehörten. Wenngleich Ružička persönlich die Musik auch weiterhin einfach schlecht findet – was für Herhoffer auch „total ok“ ist.