Film

Die Frau mit den 5 Elefanten
von Vadim Jendreyko
CH/DE 2009 | 93 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 33
03.11.2009

Diskussion
Podium: Vadim Jendreyko
Moderation: Hilde Hoffmann
Protokoll: Ann Katrin Thöle

Synopse

Swetlana Geier, 1923 in der Ukraine geboren und 1943 nach Deutschland geflohen, ist gefeierte Übersetzerin. Derzeit arbeitet sie an Dostojewskijs fünf Hauptwerken. „Man muss Dostojewskij lesen wie ein Schatzgräber …“ Daneben ist sie Großmutter, Hausfrau, Gastgeberin und Chronistin ihres Lebens. 

Protokoll

Swetlana Geier, die in der Ukraine geboren wurde und seit Ende des 2. Weltkriegs in Deutschland lebt, gehört zu den besten Übersetzerinnen russischer Literatur mit besonderem Augenmerk auf dem Werk Dostojewskis. Von ihr handelt der Film. Hilde Hoffmann würdigt die Regiearbeit Jendreykos zu Beginn der Diskussion als ein beeindruckendes Porträt, das über die Annäherung an das Haus als Lebensraum, die Beobachtung des Körpers, der alltäglichen Verrichtungen und konzentrierten Übersetzungsarbeit einen Raum öffnet hin zu der Frage, wie Literatur und Welt ineinandergreifen, auf welche Weise sie miteinander verwoben sind.

Der Regisseur wird später bezüglich der einleitenden Ehrung als beste Übersetzerin anmerken, Swetlana Geier selbst hätte diese Ehrung sicherlich bescheiden von sich gewiesen. Denn für sie sei die Übersetzung eines literarischen Werkes immer an eine bestimmte Zeit gebunden, eine solche Übertragungsleistung sei vergänglich und könne nicht auf Dauer angelegt sein. Ein Text verändere sich im Laufe der Zeit und entziehe sich einem auch wieder. Bereits hier wird damit auf die Verknüpfung von Literatur und Leben(szeit) hingewiesen, die für die weitere Diskussion eine große Rolle spielt.

Als Jendryko sich im Rahmen eines anderen Projekts mit Dostojewski beschäftigte, wurde ihm Swetlana Geier als Expertin empfohlen. Das Gefühl, mit dem Eintritt in ihr Haus eine andere Zeit und Kultur zu betreten, die Faszination für den wachen Geist der alten Dame und die gute persönliche Beziehung gaben schließlich den Anstoß zur Filmidee. Ein Film über diese Frau, die eine unglaubliche Liebe zur Sprache und eine Hingabe zur Übersetzungsarbeit auszeichnet. Hoffmann schließt hier an und fragt, ob man den Film nicht auch als eine Art Übersetzung verstehen könne, als Versuch, die Poesie dieser Hingabe zu übertragen und einzufangen. Der Regisseur bestätigt, er sehe durchaus Parallelen zwischen der Filmarbeit und dem Unterfangen, einen Dostojewski-„Elefanten“ zu übersetzen – der zeitliche Aufwand, die Missverständnisse, die Prozesshaftigkeit, die ständige Rücknahme und Infragestellung von Dingen. Er fühle sich in der Übersetzungsthematik daher zu Hause. Dies spiegelt sich auf der filmischen Ebene unter anderem in der eingehenden Betrachtung der Arbeitsmethoden: das genaue Lesen Geiers, die Zusammenarbeit mit ihren beiden „Helfern“ Frau Hagen (die Schreibmaschine) und Herrn Kloth (der Vorleser, ein Musiker), Korrekturen, Anstreichungen, Änderungen, Diskussionen, Satzzeichen,…, ein „Ringen um jedes Gramm“ (Hoffmann). Diese Arbeitsszenen zeugen von einer großen Konzentration, von Kompetenz und Erfahrung und entbehren nicht einer gewissen Komik.

Im Folgenden geht es um die Annäherung an die Protagonistin und ihren Umgang mit der Kamera. Geier habe sich anfänglich nicht einmal fotografieren lassen wollen. Die daraus folgende Skepsis, die Anwesenheit der Kamera könne zum Problem werden, habe sich aber schnell gelegt. Nach einem halbjährigen Reifungsprozess sei eine erstaunliche Vertrautheit und Nähe entstanden, die für die Filmaufnahmen sehr gewinnbringend gewesen seien. Manchmal wurde mit zwei Kameras, in der Regel aber nur mit einer gedreht. Auffällig ist die große Natürlichkeit, man könnte fast sagen Authentizität der Protagonistin. Jendreyko betont, sie habe das Filmteam immer als einzelne Individuen wahrgenommen und angesprochen, sie habe nicht mit dem Objektiv kokettiert, sondern mit den Leuten selbst. Auch auf eine spätere Frage Peter Otts nach seinen Inszenierungsstrategien, antwortet Jendreyko, von Inszenierungswünschen des Regisseurs lasse sich Geier nicht beeindrucken, „diese Frau lässt sich nicht inszenieren“.

Beeindruckt zeigt sich Hoffmann von der Aufmerksamkeit und Genauigkeit Geiers im Umgang nicht nur mit der Literatur, sondern auch in den Tätigkeiten des Alltags, in Haushaltsfragen wie dem Kochen und Bügeln. Stets scheint es ihr um das „Wesen der Dinge an sich“ zu gehen. Der Regisseur beschreibt denn auch drei für den Film wesentliche Elemente, die sich für die Erzählstruktur ergeben haben: Geier als Intellektuelle (Übersetzerin), ihre Rolle als Familienoberhaupt und Hausfrau sowie ihre Biografie und die Frage, wie diese mit der europäischen Geschichte in Zusammenhang zu bringen ist. Insgesamt, so Hoffmann, lässt sich hier von einem Bedingungsverhältnis dieser drei Ebenen sprechen.

Eine wichtige Zäsur erfuhr der Drehprozess als Geiers Sohn einen schweren Unfall erlitt. Sie hört auf zu arbeiten, kocht für ihren Sohn und widmet sich ganz der Familie. Gleichzeitig, so schildert Jendreyko, schien dieser Vorfall ein Tor zu Geiers eigener Vergangenheit, zu ihrem Vater, dem stalinistischen Terror und den Kriegsgeschehnissen in der Ukraine zu öffnen. Diese Auseinandersetzung führte schließlich zu einer einwöchigen gemeinsamen Reise in ihre alte Heimat, die erste Rückkehr überhaupt. Aus dieser Hinwendung zu biografischen Aspekten (Archivmaterial) ergibt sich eine entscheidende Frage für den Film, die Podium und Plenum in der Diskussion gleichermaßen beschäftigt: die Frage nach „Verbrechen und Strafe“ (der neue Titel von Geiers Dostojewsksi-Übersetzung , ehemals „Schuld und Sühne“).

Hoffmann weist darauf hin, dass der Film mit „Leerstellen“ und Auslassungen arbeite, insbesondere was Geiers Verbindung zum Wehrmachtsoffizier Graf Kerssenbrock und ihre genaue Funktion als Übersetzerin für das NS-Besatzerregime betrifft. Auch erfährt man nichts über die Anfänge in Deutschland oder ihren geschiedenen Mann. Gewisse Widersprüche kann und will der Film nicht auflösen, auch wenn der Regisseur zugibt, anfangs irritiert gewesen zu sein, dass Geier sagt, sie sei den Deutschen dankbar und schulde dem Land etwas. Er habe aber verstanden, dass sie beispielsweise Kerssenbrock nicht als Vertreter eines Systems, sondern als einzelnen Menschen wahrgenommen und bestimmten Leuten viel zu verdanken habe. „Für Geier war und ist es erstaunlich, dass sie überlebt hat.“ Wahrscheinlich bestehe sogar eine Art Schuldgefühl, überlebt zu haben.

Hier knüpft Werner Ruzicka an und stellt, nachdem er die Form, die Raumpolitik, das Licht und die Betonung des Körpers, die Schönheit ihres Gesichts gewürdigt hat, die Frage, ob sie mit ihrem teils mädchenhaften Charme nicht der Brisanz des Themas ausweiche. Und ob die Art, wie sie mit Sprache umgehe, ihre eigene Sprachlichkeit und auch die Übersetzung von Dostojewskis Romanen nicht als mögliche Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld und Schuldigkeit angesehen werden kann. Er verweist treffend auf Geiers Satz „so etwas übersetzt sich nicht ungesühnt.“ Dieser Vorschlag findet Jendreykos Zustimmung und immer deutlicher gerät die Literatur und Übersetzungsarbeit ins Licht der Aufarbeitung eines Lebensthemas. Mehrere Diskutanten greifen diese Fragen auf und spekulieren, dass Geiers enorme Geistes- und Kulturarbeit eine Form der Versöhnung sei, oder auch eine Art Schuldausgleich, das Verarbeiten der eigenen Geschichte. Dostojewski entwickelt sich zu einer Hintergrundfolie, ein Diskutant meint gar, sie lese in ihm ihr eigenes Leben.

Hoffmann kommt auf formale Besonderheiten zu sprechen und findet, dass sich das Archivmaterial gut in den Erzählrhythmus integriert. Jendreyko erzählt, es sei ein Glücksfall gewesen, dass so gut erhaltene historische Fotos existierten. Eine erste Anlaufstelle war das Nationalarchiv in der Ukraine, die Filmaufnahmen dort seien aber von sehr schlechter Qualität gewesen; in Deutschland wiederum lagere gutes, aber viel zu teures Archivmaterial. Vor allem das Wochenschaumaterial in den USA sei von Bedeutung gewesen, da es zwar schlecht katalogisiert, dafür aber frei zugänglich war; in den Film integrierte Ausschnitte aus einem expressionistischen Raskolnikow-Film stammen von einer restaurierten Fassung. Allerdings sei das rechtlich schwierig gewesen, weil niemand wisse, wem der Film gehört. Insgesamt war es daher eine recht akribische und aufwendige Materialrecherche.

Abschließend wird darüber diskutiert, ob die Szene, in der Geier über Dostojewskis Raskolnikow-Figur und die zentrale Frage, ob der Zweck die Mittel heilige, reflektiert, eine übergeordnete Bedeutung für ihre eigene Biografie hat. Auch wenn eine Überinterpretation dem Regisseur zufolge vermieden werden sollte, sind sich Hoffmann und Jendreyko einig, dass es zu einer Lebensmaxime Geiers wurde, dass der Zweck eben nicht die Mittel heiligt. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Erkenntnis ergeben, seien allerdings, so beide, radikal.

Insgesamt kann man wohl von einer diesem ungemein anrührenden, wenngleich nicht rührigen Dokumentarfilm angemessenen, konzentrierten und ruhigen Diskussion sprechen.