Synopse
Eine Gegenwartsaufnahme: ehemaliges KZ Sobibor, Polen. Auf dem Gelände wohnt heute eine Familie. Auf die Frage nach Gedächtnis und Gefühlen weiß keiner eine rechte Antwort. Düstere Klänge hallen in den Räumen des Hauses, „Occult Metal“ erklärt der halbwüchsige Sohn. Vor der Tür steht ein Turm aus Lagerzeiten, für den Jungen kein Zeichen des Todes. Der Alltag ist eingekehrt, über die Gräber Gras gewachsen. Vergangenheit ist nicht selbstverständlich.
Protokoll
(Falscher Vorgriff)
Um ehrlich zu sein hatte ich damit gerechnet, dass Karmakar, ähnlich wie im letzten Jahr, das Podiumsgespräch aus Mangel an für ihn reizvollen Fragen verärgert abbrechen könnte. An Stelle des Protokolls der nicht gelaufenen Diskussion hätte man sich dann etwas Kunstvolles als Leerstellenfüller einfallen lassen müssen – Haikus, wie Torsten Alisch schon mal vorschlug.
(Eintrainierte Frontstellungen)
Zum einen ist Ironie aber in Anbetracht des Filmthemas der Ermordung von 1,7 Millionen Juden auf polnischem Gebiet durch die Nationalsozialisten grundsätzlich unangebracht. Zum anderen ließ sich Karmakar tatsächlich auf eine Diskussion ein, deren Argumentationen er so ähnlich im Grunde schon von der Berlinale her kannte und der es in Duisburg nicht gelang, ihr Gespräch aus den eingangs angesprochenen Vorurteilen wesentlich weiter zu entwickeln – auch wenn Werner Dütsch, Werner Ruzicka und Romuald Karmakar mehrmals dazu aufforderten.
Ein wenig hatte man den Eindruck, als hätte man sich von vorneherein schon auf seine Fronten fest geschossen und sich auf eingespielte Konfrontationsmuster zwischen Karmakar und Publikum verlassen. Selbst Werner Dütschs kunstvoller Einstieg half da nichts: über das Motiv der italienischen Freskomalerei, und den übertragenen Vergleich dabei im frischen Putz schnell arbeiten zu müsse, ohne die Option der Korrektur, stellt er die Frage an Karmakar, wie viel Plan seine Aufnahmen enthielten. Worauf Dütsch damit eigentlich hinaus wollte: dass das Material zwar schnell und nicht als eigentliches Filmmaterial entstanden war, dass aber nur die intensive zweijährige Forschungsarbeit über das Hamburger Reserve-Bataillon, es möglich gemacht hatten, die Orte des Films zu finden und zu zeigen. In seinem Film aber habe sich Karmakar dann einer unmittelbareren Erfahrung ausgesetzt und sich nicht auf die Sicherheit von Dokumenten verlassen.
(Material ist nicht gleich Material)
Der Kunstgriff an dem sich letztlich die Diskussion festfuhr, war die Tatsache, dass Karmakar Recherchematerial, das er für einen noch kommenden Spielfilm aufgenommen hatte, kurzerhand zum Filmmaterial seiner Dokumentation „Land der Vernichtung“ umdefiniert hat. In seinem Katalogtext, in dem er die Zusammenhänge der Recherche präzise formuliert, nennt er es einen „making-before“-Film. Etwas Anderes als das weithin bekannte making-of, denn es geht im Material nicht um die Hintergründe und Drehsituation, sondern um die noch vor den eigentlichen Dreharbeiten aufgenommenen Bilder, mit Hilfe derer man sich mit dem Thema vertraut macht, Informationen sammelt, sieht, was möglich ist – Bilder, die es „öffentlich“ eigentlich nicht gibt. Karmakar aber, so kritisiert es ein Diskussionsteilnehmer, behandle es wie Found-Footage-Material.
(Rausschneiden)
Es war die Szene mit einer alten Polin, die Karmakar in der Situation und bei laufender Kamera offenbar dazu anstoßen konnte, das erste Mal in ihrem Leben ansatzweise über ihre Folter als Gefangene der Besetzer zu erzählen. Es fällt ihr schwer darüber zu sprechen, sie will sich nicht erinnern und sie will vor allem nicht, dass es Bilder von ihr gibt, weil sie sich schämt und nicht möchte, „dass die Leute mit Fingern auf sie zeigen“. Jeder Zuschauer kann diesen Satz hören und die Bilder sehen, die sie nicht gezeigt wissen will. Ganz offenbar ist das Zeitalter des Medienbewusstseins um Majdanek noch nicht angebrochen und ganz offenbar realisiert die alte Frau nicht, auch wenn Karmakar mit seiner Mini-DV-Kamera unmittelbar vor ihr steht, dass längst Bilder von ihr entstehen.
Karmakar ist klar, wie einfach es gewesen wäre, das aus dem Film herauszuschneiden und sich die Diskussion zu ersparen. Die darin angesprochene fatale Diskrepanz aber, die Tragödie zu zeigen, ist ihm wichtiger: „Wenn ich die Szene ganz rausnehme, fehlt ein wichtiger Aspekt des Films“, so Karmakar, „dass jemand an den Ort seiner Pein zurückkehrt und dort leben muss“. Und es stört Karmakar, diese eine Sequenz stellvertretend für die Moral des Machers zu setzen und „den gesamten Rest des Films damit zu überblenden.“
(„Andere“ Bilder)
Nach einer zweijährigen Recherchezeit über das Hamburger Polizei-Bataillon 101, war der Filmemacher im Sommer 2003 nach Polen gefahren und hatte dort vor Ort Rechercheaufnahmen „als visuelle Grundlage für sein weiteres Projekt“ gemacht. Die mit einer Mini-DV-Kamera und im Alleingang gedrehten Szenen verloren erst nach der Rückkehr ihren Hilfsmaterialstatus und wurden zum Material für ein eigenständiges Projekt „Land der Vernichtung“. Trotz Schnitt blieb ihnen der Ausdruck des Unmittelbaren, die verwackelte Kamera, die langen, den Ort abtastenden Einstellungen, die umständliche Organisation der Protagonisten und das Ringen um ihre Aussagen.
Sie alle aber, so der Vorwurf an Karmakar, geben Auskunft, weil ihnen nicht klar war, dass man mit ihren Bildern später ernst machen könnte. „Karmakar ist ja nicht blöd“, so Ruzicka in der Diskussion, denn man müsste nicht denken, dass er nicht genau wisse welche Diskussionen er mit welchen Dingen lostreten würde. Dazu arbeitet Karmakar zu lange mit den Themen von Gewalt und Geschichte in provozierenden Experimenten, die nach den Menschen dahinter suchen, ohne sie moralisch bereits zu kategorisieren.
Eine Definition was genau das Naive und Effekthascherische sei, fordert Karmakar von jedem einzelnen der Diskussionsgäste, der den Begriff in den Mund nimmt. Jenseits von moralischen Wertungen ist es für ihn die Frage, ob man das Recherchematerial als Reiz begreifen kann. Es bleibt erstaunlich, welche Monumentalität Karmakar aus dem 15-stündigen, mit einer Mini-DV-Kamera aufgezeichneten Material entwickelt. In seinem tatsächlichen sich „Ergehen“ des Ortes, in dem man ihm eine quälend lange Zeit folgen muss, unterscheidet sich „Land der Vernichtung“ von vielen anderen Filmen“, so Dütsch.
(Dem Klischee entkommen)
Natürlich sind auch Karmakars Bilder nicht „neu“. Das sagt er selbst, obwohl er andererseits auch sagt, dass es keine verbindliche Ikonografie darüber gibt, wie ein Lager darzustellen ist: „Es gibt kein gängiges Bild über die Darstellung von Vernichtungslagern. In den meisten Filmen wird das Gelände in einer kurzen Aufnahme mit einem Hubschrauber überflogen.“ Karmakar selbst schreitet es elend lange ab, man hört sein angestrengtes Atmen, das Zählen der Schritte und das Fluchen über den auslaufenden Akku der Minikamera. Vergisst man, dass die Bilder nicht von vorneherein für den Zuschauer geplant waren, lässt sich ihm das als eitle Geste ankreiden. Letztendlich aber hat er damit Bilder gewonnen, die nun aus ihrer hybriden Position heraus Reibung erzeugen und für die Idee stehen, dass darin Realität stärker abgebildet wird, eben weil sie nicht als repräsentative geplant sind. Gerade das aber wird im Dokumentarfilmbetrieb als unlauterer Bildgewinn verstanden.
Eine Qualität von Karmakar liegt wohl darin, solchen Argumentationen nicht nachzugeben.
Karmakar, das hört man in der Diskussion von ihm, ist versucht Klischees nicht zu übernehmen – das gilt für die Ästhetik der Bilder wie für das, was sie erzählen. Wenn bei seiner Autofahrt durch einen Wald aus der Anlage Weissferdels Wünschkonzert zu hören ist, dann ist auch das Teil seiner Frage danach, wie sich ein SS-Offizier nach einer Massenerschießung verhalten könnte, was er macht, wie er denkt und fühlt, wenn er „nach Hause“ fährt.
(Der Holocaust als Genre)
Auch wenn das in Anbetracht seines Gegenstands etwas widerständig zu denken ist, aber natürlich ist der Holocaustfilm längst ein Genre mit eingeführten Konventionen und Mustern. Wichtiges Beispiel, das im Vergleich auch in der Diskussion mehrmals erwähnt wird, ist Claude Lanzmanns Shoah. „Claudes Lanzmanns Shoah“ aber, so Werner Dütsch, „ist 20 Jahre alt, ein Großteil der darin gezeigten Zeitzeugen ist mittlerweile gestorben.“ Was Dütsch in „Land der Vernichtung“ mit Lanzmann vergleichbar scheint, ist dass er seine Personen fast schon quälend zwingt zu reden. Dütsch: „Lanzmann hätte es den Leuten auch einfacher machen können, aber dann hätten sie nicht so geredet. Davon steckt auch etwas in Karmakars Film.“
Peter Otts etwas gewagter Vorschlag war es, sich für die Reformation des Holocaustfilms ein Beispiel an Sergio Leone Verkehrung des Western-Genres zu nehmen. Für Dütsch funktioniert ein Ausweg bereits in der Unabsichtlichkeit die das von Karmakar gesammelte Recherchematerial hat. Darin entkommt der Film einerseits dem Unbeschreiblichen des Themas und andererseits der Abgedroschenheit der bekannten Filmbilder über den Holocaust.
(Die Phänomenologie des historischen Orts)
Peter Ott, der selbst beim Festival mit seinem Film „Jona (Hamburg)“ vertreten war, fühlte sich jedenfalls trotz seiner Kritik „von dem Film aufgewühlt, und das hat schon sehr lange kein Film über den NS mehr hinbekommen.“ Trotzdem glaubt er nicht, dass sich historische Orte über ihre Phänomenologie neu entdecken lassen. Für Karmakar aber stimmt es ohnehin nicht, dass sich der Film all dem unschuldig nähern würde. Es gebe darin, anders als in vielen anderen Filmen, die er kennt, ein Gespür für den Ort, für die Natur dort, die Temperatur…: „In meinem Film kommt Sonne vor.“ Für ihn ein wichtiges Motiv auch der Wald: „Es geht doch darum, dass Wälder in dieser Gegend ein ganz eigenes Thema sind. Der Wald ist ein kontaminierter, kein unschuldiger. Und der Wald ist ein sehr deutsches Thema, im Zusammenhang der Romantik und er spielt eine Rolle beim Heimatbegriff. Die verschwundenen Friedhöfe und Massengräber, die man unter Waldbepflanzung versteckt, all das sind wichtige Dinge….“
Die Tonspur die Girke anspricht, die beiden Ausschnitte aus der Himmlerrede und die historischen Aufnahmen von Weiß Ferdls Auftritten im Wunschkonzert, sind ein solches, den historischen Kontext einspielendes Material. (Sie sind aber auch ein geschickter Link zu Karmakars Himmlerprojekt, das 2000 in Duisburg zu sehen war.)
(Anschlüsse)
Auch über die Schlusssequenz bleiben die Meinungen konträr, denn während die Einen darin eine Doppelung der Szene mit der alten Polin sehen, die Karmakar hartnäckig weiter vom Dolmetscher befragen lässt, obwohl es ihr unangenehm scheint, sehen die Anderen darin einen gelungenen Ausgang in der Verbindung mit der jungen Generation, die mit dem Thema Geschichte auf eigene Weise ignorant umgeht. Über das Thema der Lieblingsmusik – das funktioniert so wie in guten alten Jugendzentrumszeiten – fasst der junge Pole plötzlich Zutrauen zum Filmemacher aus Berlin und zeigt ihm stolz die Kassetten-Cover seiner favorisierten Occult-Metall-Bands. Auch darin fängt Kamarkar ein starkes Bild, denn während seiner Begeisterung für das dort hörbare virtuelle Böse, scheint der Jugendliche die abstruse Nähe zum realen Bösen und dessen verschütteter Geschichte rings um ihn nicht spüren zu wollen – dem Kinogänger drängt sich diese unheimliche Spannung umso mehr auf.
Bleibt abzuwarten, welche Diskussion sich ergibt, sobald der Spielfilm existiert, für den das Material aus „Land der Vernichtung“ eigentlich entstanden ist.