Synopse
Rotenburg (Wümme), eine Kleinstadt östlich von Bremen. Gepflegte Langeweile kennzeichnet das Stadtbild und lässt nichts erahnen. Doch jede Stadt hat ihr Geheimnis, und die tragische Geschichte Rotenburgs, die uns erzählt wird, gleicht einer Jahrhunderte langen Heimsuchung. Ohne Vergangenheit ist man gar nichts.
Protokoll
Für die Projektion von Alles was wir haben wurde der Ton im Kino von Volko Kamensky und Julian Rohrhuber selbst eingerichtet, um eine bestimmte Wahrnehmungssituation herzustellen. Die Besonderheit der Tonmischung besteht in der Entkoppelung der Athmos vom Off-Kommentar. Erstere werden mit dem Bild verknüpft und kommen von vorne (Leinwand), letzterer von hinten aus dem Zuschauerraum. Die zweite Besonderheit liegt in der komplett synthetischen Erzeugung der Athmos bzw. in der Methode der Erzeugung: Rohrhuber hat eine Programmierung entwickelt, die auf minimalen Klanginformationen beruht, so dass das gemeinte Geräusch (Rasenmäher, Vogelzwitschern o.ä.) nur gerade noch erkannt werden kann. Die beiden Off-Stimmen (der Stadtarchivar von Rotenburg/Wümme und die Leiterin des Heimatmuseums) werden synthetisch in Kamenskys Stimme überführt.
Kamensky erklärt eingangs dieses Tondesign, um damit sofort ausführlich das Konzept seines Films aufzuschlüsseln. Er habe die übliche Funktion des Tons im Dokumentarfilm unterlaufen wollen, die in reiner Vergewisserung bestehe, in der Bestätigung bzw. Authentifizierung dessen, was im Bild zu sehen sei. Zwischenfrage aus dem Publikum: Ist die „Story“ vom mehrfach abgebrannten Heimatmuseum, die erzählt wird, da nicht eher eine unnötige Ablenkung vom komplexen Tonkonzept? Aber nein, so Kamensky – „Anliegen“ sei ja gewesen, auf die Not der Rotenburger hinzuweisen… Diese „Not“ besteht darin, dass das Heimatmuseum und mit ihm vermeintlich Geschichte und Linearität immer wieder verschwinden, sich auflösen. Der Ton solle die Problematik auf den Dokumentarfilm übertragen. So wie ein Heimatmuseum letztlich keinen direkten Zugang zur Geschichte hat, hat auch der Dokumentarfilm keinen direkten bzw. verlässlichen Zugang zur Wirklichkeit. Die vermeintliche Authentifizierung durch Ton kann mit Minimalinformationen, die dann auch noch synthetisch erzeugt sind, nicht stattfinden.
Werner Ruzicka geht die Analyse fast zu schnell, er möchte zunächst einfach „Resonanzboden“ sein für den Film, von dem er sich rundum begeistert zeigt und der nach der Sichtung auf Video jetzt erstmals mit der Ton-Installation zu sehen war. Er schildert Assoziationen, die der eigentlichen Reflexion vorausgegangen seien: etwa zu Stadtführungen, bei denen man von hinten zugetextet wird und irgendwann nicht mehr zuhört, oder auch zur „Grausamkeit der Vorgärten“.
Der Regisseur Peter Ott möchte wissen, was Kamensky so am Heimatbegriff interessiere – das Absurde vielleicht? Damit will Kamensky vorsichtig sein. Rotenburg sei letztlich eine sehr durchschnittliche Stadt. Selbst die vielen Flächenbrände seien in der norddeutschen Gegend nicht völlig ungewöhnlich. Interessiert hat ihn die Frage: Warum muss das Museum da sein – warum wird es einerseits immer wieder vernichtet und andererseits immer wieder aufgebaut? Seine Ausgestaltung scheint letztlich ersetzbar, aber in jedem Fall muss es existieren. Kamenskys Kritik am Heimatbegriff zielt auf die Vorstellung von Verwurzelung, d.h. auf die Vorstellung, dass Menschen zu einem bestimmten Ort gehören – dem müsse er aufgrund seiner eigenen Biografie widersprechen. Nicht ganz deutlich wird, ob er die angesprochene „Psychostruktur“ Rotenburgs nun für sehr gewöhnlich oder doch eher besonders merkwürdig hält. Er berichtet vom „Rotenburger Heimatbund“, von dem er bis dato keine Reaktion auf seinen Film erhalten habe.
Ein Zuschauer fühlt sich an Godard erinnert und versteht den Film davon abgesehen als absolut parodistisch und ohne „ernstzunehmendes“ Anliegen – eine Parodie auf die Vermittlung von Geschichte, wie sie formal z.B. im allmählichen Ausblenden der Off-Stimme zum Ausdruck käme. Kamensky räumt ein, dass eine komische Ebene natürlich vorhanden und intendiert sei – letztlich liege auch im ständigen Verschwinden des Heimatmuseums eine gewisse Komik.
Dann ernstgemeinte Kritik: Hier sei ein dokumentarischer Gestus des „Zudeckens“ am Werk, der Film die „Bebilderung eines Vorurteils“. Vielleicht gäbe es ja noch ganz andere Stimmen zu diesem Ort. Kamensky kann die Kritik problemlos annehmen: Er hatte eben nur diese eine Fragestellung und Perspektive. Rückfrage: Worin liegt dann noch das Dokumentarische? Julian Rohrhuber schaltet sich ein und spricht vom „Über- Dokumentarischen“ des Films. Zum Vorwurf einseitiger subjektiver Auswahl des Gezeigten erklärt Kamensky noch, dass seine Einstellungen aus einem Bildband über Rotenburg stammen; die Standorte seiner Panorama-Schwenks seien alle darin enthalten. Auch habe er die Erzählungen seiner Interviewpartner weder gesteuert noch geschnitten. Manchmal könne man am besten über die Sprache von anderen zu eigenen Aussagen kommen!
Eine Zuschauerin findet die Thematik von Heimat und Geschichte nicht so überzeugend und trennt sie von formalen Aspekten. Sie vergleicht mit Kamenskys vorangegangenem Film Divina Obsession (Duisburger Filmwoche 1999) sowie Knittelfeld von Gerhard Friedl (Duisburger Filmwoche 1997), der ebenfalls mit Panoramaschwenks arbeitet. Dort gebe es klare Entwicklungen, die in diesem Film diffus blieben, die „unspektakulären“ Einstellungen fügten sich nicht zum „Mini-Drama“ vom Museum. Ruzicka widerspricht: Es gehe um Raum- und nicht um Kameraführung, es gehe um Pointen, nicht nur um das Formale d.h. die Vordergründigkeit der Abbildung, insofern könne man nicht mit Knittelfeld vergleichen. Kamensky selbst findet den Vergleich durchaus interessant, gerade aufgrund der Unterschiede, die dabei hervortreten. In Divina Obsession gibt es die Kreisfahrten als Gegenstück zum Schwenk, in Knittelfeld Schwenks, die Orientierung im Raum verschaffen, in Alles was wir haben dagegen zerfalle die Außenwelt, es gebe keine Übersicht, kein Gesamtbild zu dem die Panoramen zusammenfinden.
Jemand fragt, ob die Unmöglichkeit zu dokumentieren dokumentiert werden solle. Unmöglich ist es sicher nicht, meint Kamensky, aber jedenfalls nicht unmittelbar. Und zur erneut vorgebrachten Kritik, der Film würde lediglich eine Behauptung bebildern: Ja, es handelt sich um ein Pamphlet! Ein Zuschauer gibt sich dann als ehemaliger Rotenburger zu erkennen und beklagt, dass weder das Museum von innen zu sehen sei noch die Rotenburger „Lebensqualität“ zum Ausdruck komme. Ein anderer findet, der Charme des Films beruhe an einigen Stellen gerade auf dem „unfairen“ Umgang mit dem Ort. Rohrhuber bringt dazu aus dem Sound Design den Begriff „Cartoonification“ein.
Aus ganz anderem Blickwinkel wird kritisiert, Kamensky wolle ja doch einen Funken von objektiver, konkreter Information in Bild und Ton transportieren und spiele so das Spiel mit. Vrääth Öhner benennt schließlich das Problem der Diskussion: Sie kreise um einen Ort und die Frage, ob und wie man ihn gesehen habe, obwohl das letzthin unerheblich sei. Es gehe im Film zentral um das Problem der „Schreibung“, deswegen müsse man doch nicht den realen Ort bzw. die eigene Einschreibung verteidigen. Trotzdem meint ein Zuschauer zuletzt noch einmal bei dieser Frage bleiben zu müssen, um dem Film mildernde Umstände zu gewähren: Die Reduktion der Darstellung sei immerhin so augenfällig, dass sie die Beschränkung des Dokumentarischen offenlege und deutlich mache, die Stadt könne auch ganz anders sein (Kamensky ergänzt, die wiederholte Brandstiftung am Museum lasse ja erkennen, dass offenbar sehr kontroverse Meinungen über Rotenburg existieren). So muss Ruzicka am Ende noch einmal zuspitzen: Um Rotenburg geht es hier nicht – der Ort ist völlig egal.