Extra

Daneben, dahinter, dazwischen, dabei: Bedingungen und Versionen des Authentischen im Fernsehen II

Duisburger Filmwoche 26
07.11.2002

Podium: Rainer Vowe (Filmwissenschaftler und Historiker), Ulrike Schweitzer (Redaktion „Menschen hautnah“)
Moderation: Drehli Robnik
Protokoll: Andrea Reiter

DER TAG, DER IN DER HANDTASCHE VERSCHWAND

von Marion Kainz, D, 2001, 45 Min.

Protokoll

Im heutigen Extra sollen die Versionen, bestenfalls auch die Mechanismen des Authentischen in aktuellen Fernsehformaten diskutiert werden.

Lässt sich in der heutigen Zeit, etwa seit Beginn der neunziger Jahre, ein Trend in der Dokumentarfilmproduktion aufweisen, der einer neuen Form der Formatierung von Realität frönt? Zeigen jüngere Dokumentarfilme vermehrt Individuen, die sich selbst befragen und ihre eigenen Erfahrungen schildern, wobei der hohe Grad von Privatheit Authentizität im Sinne von Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit des Dargestellten garantiert? Bieten die Dokumentarfilme der letzten Jahre eine „authentischere“ Sicht auf unsere Gesellschaft?

Dabei

Rainer Vowe geht in seinem Referat davon aus, dass ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Er spürt der neuen „Wahrhaftigkeitsinstanz“ hinterher und sucht, was bei der Trendwende auf dem Spiel steht und was in der neuen Form möglicherweise verloren gegangen ist.

Ein Beispiel aus Roman Brodmanns Reportage Der Polizeistaatsbesuch dient der Veranschaulichung der Dokumentarfilme früheren Typs: Ein Kommentar erläutert das Bild der schaulustigen Masse, kündigt an, dass sich eine Frau aus der Menge lösen werde. Ihr wird eine Vorahnung unterstellt und als „richtig“ markiert, wodurch das Zukünftige vorweggenommen wird. Diese Form der kommentierenden Positionierung ist historisch. Sie entspricht nicht den heutigen Konventionen, bei denen davon ausgegangen wird, dass sich die Bilder selber zu kommentieren haben.

Demgegenüber steht das zweite Filmbeispiel aus Der Tag, der in der Handtasche verschwand von Marion Kainz für den neuen Trend. Die Protagonistin Frau Mauerhoff vertraut sich der Kamera an und erhofft sich Antworten. Autorin mit Kamera und Porträtierte befinden sich in solidarischer Interaktion. Nun stellt sich die Frage, ob in dieser dokumentarischen Form, der Suche der Protagonisten nach sich selbst, die zeitgenössische Signatur festzustellen ist. Das Individuum befragt sich selbst, der Zuschauer nimmt dies als authentisch und wegen der medizinischen Diagnose als nicht kritisierbar wahr.

Dazwischen

Rainer Vowe stellt die These auf, dass zeitgenössische Dokumentarfilme nicht mehr ohne Erinnern und Bezeugen auskommen: In der Authentizitätskonvention von heute gilt die Bezeugung von Ereignissen durch die Protagonisten als Index für Authentizität. Der Zuschauer erfährt die Erfahrungen.

Dies ist ein Zugang zu Realität, den Rainer Vowe gar nicht unbedingt schlecht machen will. Es geht ihm darum, dass dadurch möglicherweise etwas anderes – der historische Zusammenhang – zu kurz kommt und ein anderer Zugriff auf Realität verdrängt wird. Interaktive Dokumentationen des jüngsten Trends haben Rührung und Sympathie zum Ziel, ein Erkenntnisgewinn oder Aufklärung über Gesellschaft wird aber doch in Abrede gestellt.

Die Aufgabe des Historikers ist es, die Formen der dokumentarischen Authentizitätsansprüche zu perforieren, so auch die aktuelle Authentizitätsvermittlung größter verbürgter Wahrheit durch individuelle Erinnerung. Die Gegenüberstellung zu anderen Authentizitätsstrategien soll aber nicht unbedingt eine Wertung mit einschließen.

Die Redaktion „Menschen hautnah“ hat den Film Der Tag, der in der Handtasche verschwand in ihr Programm aufgenommen, da er genau in dieses Fernsehformat passte: Eigene Umsetzung eines schwierigen Themas, Darstellung einer Lebenserfahrung, zu der nur wenige Menschen einen direkten Zugang haben, respektvolle und mit der notwendigen Wärme vermittelte Umsetzung, die Würde der alzheimerkranken Protagonistin wahrend.

In diesem Fernsehformat soll Gesellschaftliches, Sozialkritisches, gar Subversives seinen Raum haben. Den formalen Anforderungen sind keine konkreten Grenzen gesetzt. Vowes „Polemik“ setzt Ulrike Schweitzer nicht in Bezug zum WDR-Fernsehformat.

Die Fernsehredakteurin und der Historiker finden keine gemeinsame Diskussionsbasis.

Dahinter

Vowes Vorschlag eines Experiments: Man überlege sich, wie das Thema von Brodmanns Film heute umgesetzt worden wäre. Er weiß, wie das herausgekommen wäre: Man hätte Protagonisten gesucht, hätte sie nach ihren Lebensentwürfen befragt, sie respektvoll in ihrem Millieu dargestellt. Bei Brodmann findet sich keine Interaktion, denn er ist an den Massendynamiken interessiert. Um als Zuschauer zu einem Urteil bezüglich des Handtaschenfilmes zu kommen, bedürfe es verschiedener Expertenvoten, die darin gerade fehlen.

Daneben

Dazu gibt es eine Gegenmeinung. Interaktion findet sich auch in Dokumentarfilmen, die Massendynamiken untersuchen. Jegliche Verallgemeinerung ist anzuzweifeln. Politisches läuft nicht nur über Explikation ab.

Die Tyrannei der Intimität hat Richard Sennett bereits vor Jahrzehnten bemängelt. Demgegenüber steht die These, das Private ist politisch. Im Spiegel marginalisierter Individuen kann viel über die Gesellschaft ausgesagt werden.

Es wird hinterfragt, ob ein Dokumentarfilm bestimmte Informationen oder festgelegten Informationsgehalt vermitteln muss und ob es dafür adäquate und unzureichende Formen gibt.

Eine letzte Debatte entbrennt, in der der Umgang mit Erinnerung und Erinnertem in Dokumentarfilmen und Fernsehfilmen thematisiert wird. Zum Beispiel habe Claude Lanzmann gekonnt das Schmerzliche und Harte des Erinnerungsprozesses vermitteln können, heute hätten wir „maschinisierte Erinnerungsarbeit“, die bruchlos und unfragmentiert ein eingeschränktes Bild vermittelt. Dem werden Beispiele wie BlackBoxBRD oder die Guido Knopp Reihen entgegengehalten.

Ist man heute mit authentischen Wackelkamerabildern auf der Suche nach Wahrheit..?

Was geht (denn nun) im Fernsehen?