Film

Ein Spezialist
von Eyal Sivan
1998 | 123 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 23
05.11.1999

Diskussion
Podium: Eyal Sivan, Ruth Beckermann (Filmemacherin, Wien), Ulrich Herbert (Historiker, Freiburg)
Moderation: Konstantin Wulff, Werner Ružička
Protokoll: ?

Protokoll

1.) I REFUSE, ODER WIE MAN EINEN DISKURSIVEN RAUM BESSER NICHT ERÖFFNET.

Konstantin Wulff zitiert die österreichische Presse, die den Film Ein Spezialist zum epochalen Dokument erklärt hat. Folglich ging die österreichische Premiere im größten Kino Wiens mit viel Politprominenz über die Bühne. Trotzdem (oder gerade deswegen?) hat keine Diskussion über den Film stattgefunden. Sie soll hier nun, in der Kooperation von Diagonale und Duisburger Filmwoche, nachholend angestoßen werden. Seine erste Frage ist die nach der zentralen These des Films.

Eyal Sivan antwortet lapidar: Wenn die nicht klar wird, muß ich mich beim Publikum entschuldigen.

Wulff sagt, er möchte einen diskursiven Raum eröffnen. I REFUSE, antwortet Sivan. Er durchkreuzt die diskursiven Rituale und macht damit klar, daß deren Abläufe maximale Sicherheit für den Zuschauer garantieren. „Was hast du gefühlt, was denkst du“, will Sivan von einer Fragestellerin wissen. Sie weiß es nicht. „Vielleicht in einer Stunde.“ Gefahr, knistert es auf einmal im Raum. Das Schweigen, die Anspannung verraten volle Konzentration. Die Atmosphäre aus dem Film ist sofort wieder hergestellt. Sivan, der Regisseur, hat dafür gesorgt. Er fordert auf, er fordert heraus, er sagt: „Let ́s debate“. Er hat sich ganz offensichtlich etwas Bestimmtes vorgenommen. Das dürfte dann auch, neben den obligatorischen Eitelkeiten eines Filmemachers, der ausschlaggebende Grund dafür gewesen sein, daß er die eingangs zurückgewiesenen Fragen geradezu akribisch beantwortet. Sein Gestus erinnert dabei an die guten alten Agitprop- Zeiten, in denen die „diskursive Praxis“ noch nicht „Streitkultur“ hieß, und Streiten mit dem Versuch einherging, den anderen zu ÜBER-zeugen. Machtkämpfe im öffentlichen Raum der Informationsgesellschaft: Sivan artikuliert eindringlich, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, seine Hände skandieren kurz und bündig – nichts ist unwichtig, jedes Wort zählt. Hört meine Kunde von Eichmann, dem Manager, sagt Sivan, denn Eichmann ist unter uns. In Anbetracht der These bekommt sein Auftreten etwas Messianisches…

2.) LET ́S DEBATE!

Ruzicka beschreibt die ungeheuerliche audiovisuelle Vergegenwärtigung Eichmanns – man glaubt ihn fast riechen zu können.

Wenn ich den Geruch bekommen hätte, antwortet Sivan, würde ich ihn verwenden, und beschreibt ausführlich das technische Setup des Films – vom Mikro bis zur Bearbeitung der Bilder. Programmatische Sätze fließen ein: To respace the sound like in a fiction film, sagt er, und: Not in life, only in cinema, um einzelne Toneffekte zu klassifizieren. Die physische Präsenz Eichmanns sei bereits Idee des ersten Konzepts gewesen, es sollte auf keinen Fall ein historischer Film entstehen. Im damaligen Ministerpräsidenten Ben Gurion sieht Sivan den eigentlichen Drahtzieher des Eichmannprozesses. Wenn man das Ereignis gleichsetzt mit dem Film, ist Gurion so etwas wie der Auftraggeber, der die Mise-en-Scene entwirft. Der Regisseur Hurvitz hätte den ersten Film aus der Perspektive von Staatsanwalt Hausner gedreht, während er, Sivan, aus dem „pre-edited material“ den zweiten Film gemacht hätte, der gewissermaßen aus der Position Hannah Arendts (Kamerastandpunkt) gefilmt ist. Und das, eröffnet er sein Anliegen, ist die 60er Jahre-Perspektive: In Anbetracht des ungeheuerlichen Verbrechens sei die Mittelmäßigkeit des Verbrechers nicht auszuhalten gewesen. Seine aktualisierte Perspektive lautet: Wir müssen das Böse anders denken.

Wulff beschreibt eine Szene, in der das buchstäbliche Verschwinden Eichmanns (Ausblende) einen Schock bei ihm ausgelöst habe. Das Böse, die Figur Eichmann, das Repräsentierte verschwindet, sagt er.

Sivan dreht an der Schraube: Das Problem mit Eichmann war, daß er keiner Vorstellung des Bösen entsprach. Sie haben ihn nicht zu fassen bekommen, sagt er, weil sie eine konventionelle Vorstellung davon hatten, wie das Böse zu repräsentieren ist: in a translucent booth. Da aber das Böse im klassischen Sinn gefehlt hat, mußte es von Hausner in den Prozeß zurückgebracht werden – er inszeniert sich selbst als das Böse. Sivan spricht von der physischen Unmöglichkeit, das Böse zu be/greifen, weil es sich nicht um die Abwesenheit – des Guten handelt, sondern um Fragen der Effizienz. In Eichmann findet er gesellschaftlich hoch angesehene Eigenschaften versammelt, die jedes große Unternehmen zu schätzen weiß. Er stellt die Frage: „Was ist das wirkliche Verbrechen von Eichmann gewesen“, und beantwortet sie beinahe polemisch: daß die Züge pünktlich ankamen. Am Ende, so Sivan weiter, waren 120 Zeugen aufgeboten worden, von denen nur wenige in direkte Verbindung mit den Verbrechen Eichmanns gebracht werden konnten. Nach seiner Ansicht hat Eichmann die Wahrheit gesagt, wenn er behauptet hat, daß er nur mit Transportproblemen gehandelt habe. Eichmann, der moderne Manager, part of upper management, der nicht nur hinter einem Befehl verschwindet, sondern hinter einem Bewußtsein. Wir müssen das Böse anders denken, sagt Sivan, und zitiert Günter Anders: „Gewissenhaftigkeit statt Gewissen“, das sei der entscheidende Bruch in der Person Eichmanns, der von 33 bis 62 nie etwas anderes gewesen sei als gewissenhaft.

Wer die Wahrheit zeigen möchte, darf nicht unterstreichen, wird Rossellini von einem Zuschauer gegen die Filmmusik ins diskursive Feld geführt. Diesen Einwand übergeht Sivan mit der Bemerkung, daß das auch die Meinung seines Produzenten sei.

Um ein unsicheres Fazit der ersten Runde zu ziehen: Was das ist, ein Bild, über die technische Gestaltung hinaus, und wie sich Erinnerung und Gedächtnis in einem Bild (in seriellen Bildern) organisieren (lassen), scheint mir die vernachlässigte, möglicherweise wirklich wichtige Frage im Universum der digital bearbeitbaren Bilder zu sein (neue Qualität). Aber wie gesagt: Der Regisseur hatte sich etwas vorgenommen, was, das wurde langsam deutlich, und dem Tempo, das er dabei anschlug, war nur schwer (vielleicht überhaupt nur schreibend) zu widerstehen.

3.) HIER WIRD DEUTSCH GESPROCHEN.

Nachdem das Publikum die Möglichkeit hatte, mit dem Regisseur zu diskutieren, ist nun Ruth Beckermann an der Reihe; sie ist eingeladen worden, um einen Gegenstandpunkt einzunehmen und vorzutragen.

„Schön langsam“, bittet die Übersetzerin.

„Wer den Film gemacht hat, wird schon Deutsch verstehen“, antwortet Beckermann.

Bevor sie mit ihrem Statement beginnt, beschreibt sie eine historische Situation aus den fünfziger Jahren, deren Pointe darin besteht, daß sich zwei Juden streiten, während die anwesenden Deutschen zuschauen. Ihr Ausschlußverfahren, mit dem sie nicht nur die anderen Diskutanten übergeht, sondern auch die in Deutschland lebenden Juden kurzerhand zu Nichtdeutschen erklärt, läßt nichts Gutes erwarten. Sie will die skizzierte Rolle allerdings nicht übernehmen.

Warum langweile ich mich bei einem so unfaßbaren Thema? Vielleicht, so ihre erste Vermutung, weil ich dauernd mit Formfragen beschäftigt bin, damit, ob die Spiegelungen echt sind oder nicht, dem Schnitt etc. Warum erfahre ich so wenig, sucht sie nach weiteren Gründen. Das Raumgefühl würde durch die digitale Bearbeitung zerstört. Nicht allein das: es hätte ein interessanter Kompilationsfilm entstehen können, und nicht ein Spielfilm von Sivan. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter: Adolf Eichmann in einem Film von Sivan, sagt sie, gerade so, als hätte man Eichmann gecastet. Ich verstehe das ungewohnte Herangehen nicht, formuliert sie ein sprachloses Unbehagen, da hätte man auch einen Spielfilm machen können. Für ein Courtroom- Drama, setzt sie das muntere Noten verteilen fort, ist er zu langweilig. Der Film hat auch nicht die Spannung eines Dokumentarfilms, weil er sich nicht für die Personen interessiert. Sie sieht in ihm ein einziges Durcheinander, Stichworte werden geworfen, alles ist egal. Sie moniert die nicht- perfekten Schuß-Gegenschußaufnahmen, und daß sie Eichmanns Gesicht nicht länger als „ich schätze mal 50 Sekunden“ in Großaufnahme zu sehen bekommt. Emotionen werden von außen geweckt, durch Effekte. Unruhe, Frustration breiten sich in ihr aus, weil sie mehr sehen und verstehen will. Das erlangt man nicht durch die pathetische 50er-Jahre-Musik, und auch nicht durch die Verwendung von Farbe am Ende, denn die Aussage die damit getroffen wird, ist eine so simple Aussage, wer würde schon daran zweifeln, daß es heute noch Bürokraten gibt, ich kam mir wie blöd verkauft vor, beendet sie ihren Vortrag.

Sivan erklärt, daß er auf vor-geschnittenes Material zurückgegriffen hat, und aus diesem Grund wäre es ihm nicht möglich gewesen, daß Gesicht Eichmanns länger zu zeigen. Courtroom- Dramen leben vom offenen Ausgang, dieser stand von Anfang an fest. Der Prozeß sei alles mögliche gewesen, aber kein Eichmannprozeß. Angeklagt war der Nazismus, und in gewisser Weise ging es auch um den Zionismus. Für Sivan war Hausner das ausführende Organ Ben Gurions in einem entscheidenden Moment der israelischen Nationwerdung, die u.a. den wehrhaften, kriegsbereiten Staat am Ende einer langen jüdischen Leidensgeschichte etablierte. Neben nationalen Gründen – die Dominanz der aschkenasischen über die orientalischen Juden – ging es auch um das internationale moralische Ansehen Israels („moral credit to become“). Aber das ist Geschichte, sagt Savin, und der Film ist kein historischer, sondern einer für – und hier folgt ein folgenschweres Übersetzungsproblem: Memory (das semantische Feld von Gedächtnis, Erinnerung und erinnern ist somit ein weiteres Mal folgenlos angesprochen worden). Er wollte die Perspektive ändern: „listen to the perpetrator“. Warum kein Spielfilm: Zum einen, weil Eichmann und Hausner bereits das beste nur denkbare Casting verkörpern. Zum anderen: Stellen sie sich Trintingnant als Eichmann und Piccoli als Hausner vor. Was bedeutet es, wenn Trintingnant ich sagt? Daß Eichmann ich sagt, ist entscheidend.

Warum die Neuinszenierung eines Schauprozesses, will Beckermann wissen. Warum hören wir die Hausnersche Eröffnungsrede nicht, wenn in ihr doch die angesprochene Nationwerdung sichtbar wird? Er setzt sich damit an die Stelle Ben Gurions, sagt sie. Ob sie damit den Regisseur oder den Film oder etwas ganz anderes meinte, blieb unausgeführt.

4. DAS BEHÖRDLICHE DEUTSCH, DAS HAT MIT MEINER PERSON EICHMANN NICHTS ZU TUN.

Zu lange blieb Sivan mit seiner dezidiert vorgetragenen These von Eichmann als modernem Manager allein. Weder fand sie Zustimmung, noch stieß sie auf Widerspruch. Das änderte sich mit dem Freiburger Historiker Herbert Ulrich, der für sich in Anspruch nahm, für die filmischen Fragen, die diskutiert wurden, kein Spezialist zu sein.

Zuerst bedankte er sich beim Filmemacher für den Film, der neue Fragen zum Tätertypus und dem, was er repräsentiert, aufwerfen würde. Die Lektüre der schriftlichen Unterlagen ist langweilig, da würde er Sivan durchaus zustimmen, er hält den Film für wesentlich verdichtet und spricht auf ambivalente Weise von einer „deformation professionelle“ Eichmanns. Daraus leitet er seinen ersten, wohlbegründeten Zweifel ab: Daß an dem Film nur das interessant ist, was man weiß. Nur dann gewinnt der Film, den er einen Thesenfilm nennt, an Schärfe. Seine Thesen über das Böse, wenn man den Begriff überhaupt benutzen will, und über die Arbeitsteilung, das würde gut funktionieren, immer nahe an Hannah Arendts Buch entlang. Und doch wird er den Eindruck nicht los, daß der Film in eine „generationelle Falle hineintappt“. Herbert beschreibt, daß Eichmann sich als Idealist darstellt, der aus idealistischen Motiven gehandelt habe. Und plötzlich, mit der Wannsee-Konferrenz, sei der Idealismus weggewesen, sagt Eichmann. Von nun an tut er, was er tun muß. Der Film interessiert sich nur für den letzten Teil von Eichmanns Darlegungen, nicht für den ersten, das sei sein Problem. Was ist mit dem Buch, das Eichmann schreiben will? Er ist kein reiner Bürokrat, sondern ein Weltanschauungstäter. Der Idealismus, den er schützen will, ist der seiner Generation. Woran haben diese Leute geglaubt? An die Bedrohung des deutschen Volkes durch den Universalismus, durch das Judentum. Wenn sich Deutschland befreien will, muß es das Judentum vertreiben. Das nannte sich dann „Wissenschaftlicher Antisemitismus“, der mit dem Pöbel auf der Straße nichts zu tun haben wollte. Eichmann befand sich stets im Einklang mit seiner politischen Klasse. Das ist es, was er zu retten versucht, der Rest ist erzwungen. Eichmann war ein Weltanschauungstäter, anders ist seine „hohe Energie“ nicht zu verstehen. Jerusalem, Palästina, Madagaskar – all die Vorschläge und Initiativen zur Lösung des Judenproblems, und am Ende blieb nur der Tod. Man sollte es offen denken: Eichmann war derjenige, der etwas Gutes wollte und zu etwas Bösem gezwungen wurde. Die These von der Arbeitsteilung greift zu kurz. Eichmann arbeitete an einem Jahrhundertprojekt mit, das nicht transponierbar ist.

Beifall, der durchaus erleichtert klingt.

Sivan, aggressiv: Klar, daß es euch jetzt besser geht. Er ist tot, usf.

Die Behauptung von der Thesenhaftigkeit des Films weist er, wenn ich ihn richtig verstanden habe, zurück. Er ist nicht am Charakter von Eichmann interessiert, sondern an einer politischen Debatte. Wenn Eichmann Teil der Geschichte ist, like Dschingis Kahn, no problem. Er ist nicht an der Frage nach dem Warum interessiert, sondern dem Wie. Der modernen Art zu handeln. Was ist das Ideal von Eichmann? So viele Menschen wie möglich zu töten? Nein, it ́s an obvious and well done work. Wer war nicht Rassist in dieser Zeit? In der einen Hand hielt Eichmann das Problem, in der anderen die Lösung. Er hatte überhaupt nur eine Waffe in der Hand, nämlich seinen Füller. Das ist das Moderne, nicht Eichmann der Nazi! Wofür ist Eichmann verantwortlich?

Niemand hat Eichmann je gesagt, daß er seine Arbeit schlecht gemacht hätte.

Sivan spricht von „the memory of a major testimony, he ́s a witness of the perpetrators“. Das sei die Brücke zu unserer Zeit.

Herbert antwortet, daß er vom Film mehr überzeugt sei als von der These des Managers, die er für extrem entpolitisierend hält, enthält sie doch eine pauschale Anklage der Moderne. Das Thema ist für ihn mit der Figur des Managers nicht erledigt (politisch nicht transferfähig, nennt er das), im Gegenteil: Daß sich eine Gruppe das (moralische) Recht nimmt, derartige Taten zu begehen, ist für ihn das Entscheidende. Er verweist auf die von Eichmann beschriebene Wannsee-Konferrenz: Plötzlich war die Deckung weg, beim Cognac trinken wurde Klartext gesprochen. Es ging ganz konkret ums Töten, nichts anderes sagt Eichmann: „Schau mal an der Stuckhart, dieser Paragraphen-Onkel, von dem hätte ich das nicht erwartet.“ Der hatte aber schon als Jugendlicher ein Buch über Pogrome geschrieben, er war alles andere als ein Unschuldslamm. Man wird diesen Leuten nicht gerecht, wenn man sie ihrer Weltanschauung beraubt. Man verkennt diese Leute, ihren Antrieb, wenn man in ihnen nur Manager sieht.

Zu spät war Ulrich Herbert die Möglichkeit gegeben worden, eine Gegenposition zu formulieren. So konnten die Möglichkeiten des Disputs, dem das Publikum in gespannter Konzentration folgte, leider nicht ausgeschöpft werden. Aus Zeitmangel wurde die Diskussion genau in dem Augenblick abgebrochen, in dem sie entweder richtig spannend zu werden versprach, oder sich in Einzelheiten verloren hätte.

Wer weiß.