Film

Der Hauptmann von Muffrika
von Paul Meyer, Rudolf Kersting
DE 1996 | 70 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 20
06.11.1996

Diskussion
Podium: Paul Meyer, Agnes Ganseforth (Schnitt)
Moderation: Sabine Fröhlich, Werner Ružička
Protokoll: Niko Ruhe

Protokoll

Eine Geschichte von nebenan erzählen Paul Meyer und Agnes Ganseforth, eine „Legende“ aus ihrer Heimat, wo man zum Schützenfest auch Jahre nach Kriegsende noch „zum Lager 4“ ging. Man erzählte die Legende auch, so Meyer, um in der Erinnerung des größten Grauens die Dunkelheiten in der Vergangenheit der ehemaligen Wachleute des Emslandlagers vergessen zu können, die in den entstehenden bundesrepublikanischen Alltag integriert werden mußten.

1987 kam ein Buch heraus zum leben und Töten des Wilhelm „Willi“ Herold, das die Legende ein wenig zurückholte in die Realität, und Meyer beschloß einen Film zu machen über dieses dunkelste Kapitel der Geschichte seiner Heimat, das sich just im Jahr seiner Geburt dort zutrug. Er setzte gegen seinen Mitregisseur Kersting das Konzept durch, Zeugen ausfindig zu machen für jede Station von Herolds Mordtour. Durch eine mühselige Rekonstruktion der vielfach bereits weggeworfenen Akten identifiziert, waren insbesondere die Wachleute zum Teil schwer zum Sprechen zu bewegen, und Herolds bösartigster Kumpan, Reiner Freitag, war bereits tot. Viele wollten anonym bleiben. Die Interviews, so Meyer, sollten jedoch ohnehin nur Medium der Erzählung sein und die Geschichte nicht stören, so daß man auf Angabe von Namen und Berufsbezeichnungen auch dort verzichtete, wo man zu ihnen autorisiert war. Im Publikum wurde positiv vermerkt, daß hier Menschen aus der Zeit des dritten Reichs zur Sprache kamen, von denen man in diesem Zusammenhang noch kaum gehört habe, und nicht diejenigen, die in 50 Jahren professionellen Redens über die Nazizeit mittlerweile ihre eigenen Mythen ausgebildet haben.

Vielleicht gibt es ja eine Regel dieser Art: in dem Maße wie es einem Film gelingt, seinem Zuschauer etwas vom realem Grauen eines Willi Herold zu vermitteln, empfindet der Zuschauer die Aufbereitung des Films als seinem Gegenstand unangemessen. Vielleicht provozierte aber auch der Stil von Agnes Ganseforths Erläuterungen: Es sei ihr bei der Montage darum gegangen, „nicht wie ein Klempner Rohrstücke zusammenzufügen“, sondern Erwartungen, Weltbilder immer wieder zu durchbrechen, „Inkubationsräume“ zu schaffen, in denen Gefühle sich entwickeln können. Jedenfalls wurde an der Form des Films zum Teil recht harsche Kritik geübt. Beliebigkeit und mißglückte Epigonalität in der Wahl der formalen Mittel wurde ihm vorgeworfen: Insbesondere in Bezug auf den Sprachgestus und die Wahl der Erzählweise wirke der Film wie ein „verzweifelter Versuch“, Kluges Soldatengeschichten zu imitieren – und beim Kommentar wirke das „einfach lächerlich“. Was denn die „systematische Stelle“ etwa der im Zeitraffer dahinjagenden „dräuenden Wolken“ sei, die bei Kluge ihre „präzise Funktion“ hätten? Was den Kommentar betrifft, so spräche Kersting eben so, parierte Ganseforth, und höHen denn die lakonischen Kommentare ihre Entsprechung bei Kluge, so fühle man sich hier in durchaus netter Gesellschaft. Szenen wie die im Zeitraffer dahinfliegenden Wolken sowie der Einsatz von Raumtotalen seien darüberhinaus keine Erfindung Kluges, sondern fänden sich bereits im russischen Revolutionsfilm – im übrigen sei bei Kluge selbst auch alles geklaut, und der Vorwurf des Klauens bei Kluge entsprechend absurd, setzte es aus dem Publikum später noch nach.

Eine andere Diskussionsteilnehmerin fühlte sich „wie erschlagen“ vom Tango, mit dem ein Teil des Films untermalt ist, andere hatten offenbar überhaupt Schwierigkeiten mit der Musik. Meyer sah durch den Tango das Element des „Burlesken“, des „Operettenhaften“ in Herolds Geschichte hervorgehoben, das nicht kenntlich geworden wäre, hätte man sich auf die frühromantische Musik beschränkt, die den Film sonst untermalt. Was hier thematisch wird als Unaufhebbarkeit der Spannung zwischen konträren Stimmungen, die diese Musikstile evozieren, beschäftigt – als zu keiner einfachen Lösung zu bringende Grundspannung des Films und seiner Figur Willi Herold – noch mehrfach die Diskussionsrunde: Wie Ruzicka bemerkt, öffnet und schließt der Film mit dem britischen Staatsanwalt, der Herold „total verfallen“ ist, und in dessen Darstellung Herold als „Charmeur par excellence“ erscheint: Diese doppelte Hervorhebung seiner Unwiderstehlichkeit, meint Ruzicka, wirke wie eine Entschuldigung der Verhältnisse, die der Film darstellt. Ganseforth hebt hervor, daß diese faszinierende Wirkung dem Willi Herold nicht von den Machern des Films zum Zwecke der Entschuldigung des Faschismus angedichtet worden ist, sondern schlicht dem entspricht, was der größte Teil der befragten Zeugen empfunden habe: So hätten etwa die befragten Häftlinge in ihm die „Utopie des soldatischen Menschen“ bewundert. Und auch Meyer hebt hervor, daß Herolds Wirkung nicht nur von dem keineswegs faschistenfreundlichen Staatsanwalt empfunden wurde, der jüdische Vorfahren hatte und später Kronanwalt in England wurde, sondern auch von dem Bürgermeister von Papenburg und anderen: Hier gäbe es keine eigentliche Mittelmäßigkeit zu enthüllen; Herold sei kein „mickriges Männchen“ gewesen wie Eichmann, der zur Enttäuschung des Publikums der Kriegsverbrecherprozesse angesichts der Fotos der Leichen seiner Opfer in Tränen ausgebrochen sei. Aus dem Publikum wurde positiv vermerkt, daß der Film gerade durch die Wahl der formalen Mittel dem Zuschauer die Stellungnahme zum Menschen Herold nicht abnimmt. Vermißt wurde jedoch die Innenansicht dieses Menschen, wie sie sich doch etwa in seinen Äußerungen vor Gericht niederschlagen müsse. Aber bei Gerichtsverhandlungen, so Meyer, war man zu dieser Zeit weniger an den Innenperspektiven von Angeklagten als an der Feststellung ihrer Schuld interessiert, und da die bei Herold rasch festgestellt war, gab es kaum Äußerungen von ihm. Wenn er auch gesehen hätte, daß der Krieg verloren war, hätte er doch die allgemeine Rückzugsbewegung, den Defätismus nicht akzeptieren können, und dem Zusammenbruch bloß als der einfache Gefreite entgegenzuarbeiten, der er war, hätte er nicht gewollt, denn da hätte er nicht befehlen können – wesentlich mehr hätte Herold zu seinen Motiven nicht gesagt. Und Ganseforth dazu: Innen- und Außenperspektive kämen hier ohnehin „zur Deckung“: „Patriarchalischer Haß auf alles, was sich bewegt“. Im übrigen, so Meyer, könne man die Nazizeit nicht darauf zurückführen, daß Hitler ein uneheliches Kind war. Es gehe ihm nicht darum, Erklärungen zu verhindern. Aber typologische Filme möge er nicht, und auch zu moralischen Erklärungen wolle der Film keinen Anlaß geben, nicht der Neigung entgegenkommen, durch bestimmte Verknüpfungen biographischer Daten Menschen zu kriminalisieren, wie es in der deutschen Nachkriegsdebatte über das Dritte Reich allgemein üblich gewesen sei: Herold sei letztlich auch „ein normales Phänomen“ gewesen.