Protokoll
Die erste Szene des Films stimmt auf Rhythmus und Tempo der folgenden zweieinhalb Stunden ein: Ein Mann steuert sein Pferdefuhrwerk langsam durch die karge Winterlandschaft Ostpreußens über eine endlos scheinende Straße. Das Klappern der Hufe rhythmisiert die Bewegung, nur ein entgegenkommendes Automobil unterbricht kurz durch Lärm und Geschwindigkeit die Ruhe der Aufnahme- quasi eine symbolträchtige Störung der Idylle.
Stefan Reinecke leitet dann auch die Diskussion mit einem Verweis auf den elegischen Charakter des Films ein, der in seinen 157 Minuten eine komplexe Dramaturgie von Menschen- und Landschaftsbildern entfaltet. Wo liegt der Ursprung dieses Filmwerks? lautet die Frage und die Antwort des Autors Volker Koepp bestätigt den Eindruck, einen poetischen Film gesehen zu haben: Koepps Interesse richtete sich in früheren Zeiten auf den Dichter Bobrowski und dessen Heimat- ein Gedicht Bobrowskis erscheint im letzten Drittel des Films wie eine poetische Kompression der gezeigten Bilder.
Die Öffnung der Grenzen habe es ihm nun innerhalb von nur 33 Drehtagen ermöglicht, Landschaft und Menschen zu dokumentieren, ohne daß er zuvor wußte, was auf ihn zukommen, welche Menschen er dort antreffen würde. Von der poetischen Qualität der Bilder zeigten sich dann auch alle Betrachter beeindruckt: Der Film sei schön, einzelne Szenen grandios, v.a. die erste Szene der behutsamen Kontaktaufnahme mit einem alten Ehepaar hat alle Zuschauer begeistert. Doch vernebelten diese vorherrschend freundlichen Eindrücke nicht die Kritikfähigkeit des Auditoriums, Irritationen wurden formuliert: Die Art der Fragestellungen im Film erschien so manchem unbeholfen, zögerlich und karg, gor ungeschickt. Sollte dies vielleicht die Schwierigkeiten dokumentieren, an Menschen heranzukommen, deren Biographie von Unglück, von Krieg und Vertreibung, gezeichnet ist?
Die „spröde Intimität‘, so Michael Elle, habe eine Lust am Reden erst ermöglicht, habe die Menschen (erstmalig ?) dazu gebracht, ihre Geschichte zu erzählen, und zwar in solch einer Breite, daß eine analytische Ordnung nicht möglich erschien. Vorraussetzung dieser Intimität“ sei ferner die Kenntnis der „russischen Seele“, vielleicht auch die Berücksichtigung gemeinsamer Erfahrungen gewesen.
Schien somit die behutsame Art der Fragestellungen im Film plausibel, blieb die Frage noch dem Sinn der Mischung aus Landschafts- und Menschenbildern. „Will man Menschen kennen, so muß man ihre Landschaften kennen“ formulierte Volker Koepp das Programm seines Films, und Landschaft ist den Menschen in Ostpreußen eine kalte Heimat, in der Langsamkeit den Rhythmus der Zeit diktiert- in der Dramaturgie des Films strukturieren dann die Landschaftschaftsbilder die Lebensschicksole der Menschen. Diese Langsamkeit fängt der Film nicht zuletzt in seiner eigenen länge ein; eine Kürzung (Vorschlag aus dem Auditorium) mache den Film unpoetischer (Stefan Reinecke). Egon Netenjakob sah in der Länge des Films die Qualität, die Geschichtsträchtigkeit der einzelnen Biographien aufzudecken. Man dürfe auch keine Romane mehr schreiben, wenn ein Film wie dieser auf den reinen Informationswert gekürzt werde. Die Langsamkeit von Kalte Heimat stelle den Gegenpol zur schnellen Medienwelf dar, und damit vereinte Netenjakob seine Sicht mit der von Koepp, der den Film auch als Widerstand gegen die „schnellen Bilder“ sieht.
Werner Ruzicka deutete die Struktur des Films als einen Kreis um eine Mitte der Verzauberung, die in eine Trance, eine Zeitlosigkeit führe. Daher mag dann auch der Eindruck bei manchem Zuschauer entstehen, ‚Kalte Heimat‘ sei nicht zu lang, sondern eher zu kurz.
Die Frage blieb: Welche Landschaft, welche Geschichte zeigt ‚Kalte Heimat‘? Lars Henrik Goss unterstellte, die poetische Langsamkeit enthistorisiere die Landschaft. Wenn eine russische Frau unkommentiert sogen dürfe, zu Kriegszeiten sei alles besser gewesen, mangele es offenbar an einer Strategie der Fragestellung, die das Gesagte (korrekt) historisiere. Diese Kritik erschien Werner Ruzicka recht kühn, ‚Kalte Heimat‘ bringe die Menschen schließlich zum Reden, ohne insistierende Fragetechnik à la Lanzmonn.
Doch welche Geschichte wird erzählt? ‚Kalte Heimat‘ sei ein Bild für die (historischen) Fluchtbewegungen Europas und somit auch ein Bild von der „Traurigkeit der Geschichte“, so der Autor. Vor allem aber erzählt der Film Geschichten von Frauen, die ihre Männer überleben oder über deren „mentale lmpotenz“(Michael Elle) als Produkt eines übermäßigen Wodkakonsums herrausragen.
Eine ehemals deutsche Landschaft, die verlorene Kalte Heimat für viele Deutsche zu dokumentieren, bewegt sich politisch zwischen „dicht gestellten Fettnäpfchen“, antwortet Koepp auf die Frage noch politischen Reaktionen auf den Film – umso schöner für den Autor, wenn der Film offensichtlich in keines hineingetreten ist – vielleicht, weil er die privaten Biographien den großen historischen Erzählungen vorgezogen hat (Andrei Ujica) und somit außerdem die vorbelasteten Begriffe „Heimat“/“Verlust“ von ihren revanchistischen Anklängen entlastet.