Extra

Die Faszination des Bösen wieder einmal?

Duisburger Filmwoche 17
12.11.1993

Podium: Karl Heinz Bohrer, Manfred Schneider, Klaus Theweleit
Moderation: Klaus Kreimeier
Protokoll: Judith Klinger

Protokoll

In seiner Einleitung wies Klaus Kreimeier zurück auf die Filmwoche des vergangenen Jahrs, die dort an „STAU“ wie auch „Schuld und Gedächtnis“ kristallisierte Debatte: Wieviel Raum kann der „antizivilisatorischen und brutalen Gesinnung“ im Film gewährt werden? Und vor allem: wie ist dieser Raum zu organisieren, wenn er nicht zur Plattform verflachen soll? – Die Diskussion setzt sich derzeit mit „Beruf Neonazi“ fort. – Nachdem die flächendeckende Selbstbefragung nach Ursachen des rechtsradikalen Terrors nun zwei innig verstrickte ‚Super-Syndrome‘ – Gewaltbereitschaft von Jugendlichen/Gewaltfixierung der Medien – für sich entdeckt hat, bleibt „Faszination des Bösen“ ein vorläufiger Rahmen, innerhalb dessen die drei Vortragenden Reflexionen über Verbindungen zwischen der Ästhetik und der Realität des Bösen ansiedeln konnten.

Karl Heinz Bohrer: Ästhetik und Banalität des Bösen

  1. Wie definiert sich das Böse als ästhetische Kategorie? Als Begriff von kategorialer Zweideutigkeit gefaßt, zerfällt das Böse in die ihm zugestandene Existenz und die ethisch/theologisch fundierte Negation seiner Essenz. Der literarische Diskurs des Bösen soll nun verstanden werden als formale Kategorie, als Ästhetik im Gegensatz zur Rhetorik, dem ‚bösen‘ Inhalt. Die bloße Akkumulation verbotener Vorstellungen, die skandalösen Inhalte beispielsweise Baudelaires, zumal sie sich moralisieren ließen zur bloßen – spiegelbildlichen – Umkehrung, reichen zur begrifflichen Konturierung dieser Kategorie nicht hin.

Im Anschluß an Bataille wäre das momentanisfische Zeitbewußtsein, die Verweigerung jeder anderen Dimension als der des Hier und Jetzt, ein erster Anhaltspunkt für die zu leistende Bestimmung. Möglicherweise ist hier der Punkt des Umschlags einer zügel- und ziellosen Phantasie, die stets zum Verbotenen neigt, ins Vergnügen am Bösen als einer Bewußtseinslage von Autor und Rezipient ergriffen: „Hat Kunst als solche Teil am bösen Bewußtsein?“

Das Böse als spezifische Bewußtseinsform der Darstellung also: An Flauberts Solommbo wird das Schweigen der Bilder greifbar, die keine Zeichen mehr sein wollen, das heißt: Verweigerung allegorischer Sinnstiftung. Das ästhetisch Bösartige konstitutiert sich über die Verkoppelung des extremen Ausdrucks – hier: der Grausamkeit.- mit dem ebenso extremem Bedeutungsentzug.

  1. Das Defizit des Bösen in der deutschen Literatur erklärt sich mit einem ‚Terror-Regime des Guten‘ über die Imagination. Diese Herrschaft eines trivialisierten Idealismus und Bildungsoptimismus grenzt bereits im 19. Jahrhundert Widerständige wie E.T.A Hoffmann und Kleis! aus dem zeitgenössischen Diskurs aus. Im 20. Jahrhundert verdankt sich die abermalige Inthronisierung des Guten als Perspektiv auf Literaturproduktion und -rezeption dem ‚banalen Bösen‘ des Nationalsozialismus. Sozialpolitsches Bewußtsein und Ästhetik des Widerstands negieren das ästhetische, sich der Moralisierung sperrende Phantasma des Schreckens eines Peter Weiss, schließen sich ab gegen die schweigenden Torturbilder Kafkas in der Strafkolonie.

Im Film – Kubrick: A Clockwork Orange – ist diese Ästhetik des Bösen, das Bild, das sich allegorischer Sinnvermittlung entzieht, vielfach prägnanter, adäquater anzutreffen.

Manfred Schneider: Der Barbar und die mythische Referenz der Macht

fascinum, das bedeutet: Zauber und Hexerei, der als Apotropaion getragene Phallus, ein von Moral und Rechtlichkeit durchtränkter Begriff. ln der Frage nach einer ‚Faszination des Bösen‘ birgt sich die Besorgnis, daß die magische Attraktion der Bilder über die Ränder der Imagination in die Realität überspringen könnte. Dabei ist die Wahrnehmung des Bösen zugleich reduziert auf Gewalt, und Gewalt läßt sich nun in den elementaren Sozialbeziehungen auch medial- dingfest machen, verwandelt die Intimität des familiären Zusammenlebens in einen Kriegsschauplatz. So hat der moralische Konsensus der Gegenwart seine letzte Residenz in der Gewalt, spürbar in der Liberalisierung kollektiver Wertungen und der Strafpraxis – etwa gegenüber Eigentumsdelikten- einerseits, in der Sensibilisierung für das Böse körperlicher Gewalt andererseits. Parallel dazu wächst das Gewaltmonopol des Staates als des allseits geforderten und ersehnten Gegenmittels an.

Eine mythische Referenz ist stets Basis von Macht und Gesetz, deren Wirken sich im Namen Gottes oder des Königs versteht: Im Übergang von der feudalistischen Verhaftung des Rechts am Körper des Gewaltfähigen zum modernen Staat steht für diese Referenz das Volk ein, zersetzt sich in solcher Subjektlosigkeit zugleich ihre mythische Kraft. Der neuzeitliche Staat büßt mithin die Vermittelbarkeil seiner Machtreferenz ein, bringt Gewalt in ihrer Reduktion auf die Abstraktion des Rechts zum Verschwinden. Die Omnipräsenz von Gewalt im Fernsehen wäre dann als Reorganisation der verlorenen Mythologie des Staates, als transformierte Darstellung der bilderlos gewordenen Macht zu sehen.

Während im lnnern des gesellschaftlich Eigenen das Böse mit dem Unrecht identifiziert ist, findet sich im Außerhalb die Figur des Barbaren, des Fremden/Unverständlichen und zugleich magisch Anziehenden als Gegenbild des Herrschers: der Antitypus eigener Ordnung, dessen man bedarf. So operiert Politik mit der Opposition von Freund und Feind, von Ich und Barbar, ist das Gesetz der ‚zweite Körper des Königs‘, aber der erste des Barbars. Er belebt die Politik, füllt die vom Staat gelassene leere. Wenn sich Neonazis mit den Emblemen der Barbarei schmücken, artikuliert sich darin ein Erliegen gegenüber diesem Vakuum, eine Herausforderung des staatlichen Phallus: So also kommt die in Beruf Neonazi thematisierte Ähnlichkeit mit dem Feind zustande, erklärt sich auch die Durchlässigkeit zwischen barbarischen Gewalttätern, ihrem Feind und den Medien. Semiotisch auszurüsten ist der moderne Staat indes nicht, und genausowenig ist der puristischen Weltverschwörungsparanoia pädagogisch beizukommen. Wenn aber der an seine Opferrhetorik hingegebene Neonazi sich im Film- oder Fernsehbild selbst wiederholt und entleert, könnte dies Bild sich durch seine Dauer verzehren.

Klaus Theweleit: Transgression und Mauernbau

Im Anschluß an Bohrer und zugleich als Erweiterung seiner ‚Ästhetik des Bösen‘ nun die Ästhetik der Überschreitung- beispielsweise Kleist -: Außer der Transgression des Bösen wären da etwa noch Liebes-, Rauschübertretungen, die vielfältigen Verformungen und Metamorphosen des menschlichen Körpers. Abgrenzung: Anders als die ästhetisch-artistische Transgression verbraucht die faschistische Übertretung den Anderen, zersetzt und zerstückelt seinen Körper, um den Anderen dem eigenen Schreckensbild anzuverwandeln. Materialvergewaltigung gegenüber der Materialbelebung bei Flaubert, Kleist, Kafka: Gemeinsam ist beiden Körpertransformation und Lebensgewinn im Akt des Durchstoßens auf die andere Seite der Normalität.

Verformt wird ober auch der Körper- vor allem: der männliche Körper- durch seine institutionelle Einverleibung in Militärprogramm, Fabrik, Universität. Was sich den staatlichen Transformierungsprozessen sperrt, hat physische Auslöschung zu gewärtigen. Das Bewußtsein des Folterers kulminiert in Euphorie, Verlebendigung im Totschlagen von Körpermaterie: Solch – staatlich – erlaubte Transgression ins Verbrecherische wohnt im Innersten aller Männerbünde, der nationalsozialistischen zumal, die devot und dankbar dem Führerbefehl die Legitimation, böse zu sein, entnehmen dürfen.

ln der bundesrepublikanischen Wirklichkeit noch dem Mauerfall werden nun Leerstellen des Staates, Machtvakuen neu besetzt, die reklamiert werden sollen: Öffentlich sanktioniert rückt der Rechtsradikalismus vor ins Herrschaftszentrum, Duldung schlägt um in Aufforderung. Und dies wiederum Konsequenz der Fiktionalität oller bundesdeutschen Staatskonstruktionen, die sich auf ein noch Kommendes hin entwerfen, beispielsweise dem Phantasma der Wiedervereinigung entgegen. So sind die Rechtsradikalen recht eigentlich Helden, übergetreten ins Geheim-Verbrecherische mit staatlicher Erlaubnis, und dort – auf der anderen Seite – gegen Pädagogisierungsversuche immun.

Das neue nationale Massensymbol ist die Mauer, Zeichen der fürs Funktionieren West- und Ostdeutscher notwendigen Abspaltung: Die Grenze, die das Phantasma vom eigenen Gutsein und der Erlösung, der Reinigung des umgebauten Körpers von der Geschichte garantiert. Mit dem Fall der Mauer bedarf es nun eines neuen Sicherheitsgürtels um ganz Deutschland herum, aber auch die allgegenwärtigen Fernsehschirme bilden einen elektronischen Schild, übertragen ununterbrochen Unverletzlichkeitsphantasien und die Nichtexistenz der übrigen Welt.

***

In seinen Bemerkungen zum Referat Theweleits akzeptiert Karl Heinz Bohrer die Wendung der ‚Ästhetik des Bösen‘ in den positiven Sinn der Transgression – bis zur Grenze einer Unterstellung von Verschlüsselung und Referenz, deren Negation gerade die Bewußtseinskategorie der ‚bösen Kunst‘ konstituiert. An der Schneidersehen Figur des Barbaren interessieren Bohrer daher der Bezug zur Sinnstiftungssperre (borbor: wortgewordener Sinnentzug) und die enthusiastische, deutsche Identifikation mit diesem fremden, Verkehrung der Abwehr, also: Faszination.

Manfred Schneider will die Ästhetik des Bösen nicht artifiziell, sondern als ästhetische Wirksamkeit, als Operation von Ereignissen auf dem Körper verstanden wissen, Paradigma: die Hinrichtung. So gilt es, die Kontaktstellen zwischen dem realen und dem artistisch-literarischen Bösen- wie sie sich bei Bataille in der Kombination von Text und Bildmaterial finden – aufzusuchen. Staatliche Körperumformung – nach Theweleit – findet in Deutschland, wiewohl Bestandteil von Kultur, nicht länger rituell sichtbar statt: Koexistenz der geheimen Gewalt und der Gewaltlosigkeitsfiktion im modernen Staat. Klaus Theweleit seinerseits weist auf personenverzehrende Gewaltsamkeit im artistischen Akt, in der Kunstproduktion selbst, hin.

In der folgenden Diskussion wendet Themas Rothschild das Gehörte auf den Dokumentarfilm zurück: Die Verkoppelung von Thesen zum realen und zum ästhetisch Bösen trifft den Doppelcharakter des Dokumentarfilms im Spannungsfeld von Ästhetik und Faktenpräsentation. Wenn aber die Zersetzung des gesellschaftlicher). Konsenses über das Verbrechen konstatiert wird, tritt der Normentzug, bisher der Ästhetik des Bösen vorbehalten, jetzt auch in die Realität ein – im Sinne einer Analogie, nicht etwa einer Kausalität verstanden.

Klaus Theweleit verweist auf die Abkehr von der Kamera, den von Spielbergs Jurassic Parc eingeleiteten Eroberungsfeldzug des autonom generierten Bildes: Es entschwindet damit sein Abbildcharakter, flächenbrandartiges Symptom einer derzeitigen Verwandlung des Realitätsverständnisses, wiewohl die Konsequenzen dieses Prozesses noch keinesfalls absehbar sind. Sicher ist nur: Das Ab-Bild wird nicht wiederzubeleben sein, und so können auch dokumentarisch gewonnene Sequenzen wie in Beruf Neonazi auf einmal das Aroma des Inszenierten verströmen.

Auf die Frage einer Zuhörerin nach der Geschlechtsspezifik, den denkbaren Differenzen eines männlichen und eines weiblichen Bösen, beschreibt Kerl Heinz Bohrer die inhaltliche Konzentration des Bösen auf die Verdinglichung des weiblichen Körpers in der männlichen Phantasie. Wiewohl Gewaltpraxis kein genetisches Schicksal ist, bleibt sie doch, führt Manfred Schneider aus, kulturhistorisch ungleich verteilt: Gewichtungsverlagerungen zeichnen sich aber in rituell-gesellschaftlichen Formen- Leistungssport- derzeit schon ab. Künstlerinnen, so der Zusatz Bohrers, seien zumeist Vertreterinnen humanistischer Projekte, die wissenschaftliche Erarbeitung einer weiblichen Ästhetik sei geprägt vom quasiromantischen Affekt gegen den von Männern besetzten, klassischen Code: Vielleicht findet sich hier ein Sprungbrett zur weiblichen Ästhetik des Bösen.

 Klaus Theweleit, Manfred Schneider, Karl Heinz Bohrer, Klaus Kreimeier v.l. © Ekko von Schwichow
Klaus Theweleit, Manfred Schneider, Karl Heinz Bohrer, Klaus Kreimeier v.l. © Ekko von Schwichow