Film

Mantel des Vergessens
von Jürgen Bergs
DE 1989 | 60 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 13
19.11.1989

Diskussion
Podium: Jürgen Bergs, Peter C. Naumann (Kamera)
Moderation: Sabine Fröhlich
Protokoll: Reinhard Lüke

Protokoll

Eingangsmoderation: Der Film gehe ja eigentlich sehr subjektiv und assoziativ vor, um ein Stück verdrängte Geschichte ans Licht zu bringen. Dabei werde er in seinem Verlauf jedoch zunehmend differenzierter. Ob das eine Entwicklung wiedergebe, die er, Bergs, während der Arbeit auch an sich selbst erfahren habe?

Der Regisseur bestätigte diese Einschätzung. Es sei auch eine ’Reise nach Innen‘ gewesen, bei der man zunehmend merke, in welchem Maße man auch selbst an diesen kollektiven Vedrängungsprozessen teilhabe.

Kontakt zu Opfern/Zeitzeugen: Er ha~ zwar damals beim Euthanasie-Prozeß in Frankfurt einige Zeitzeugen kennengelernt, aber die seien aus unterschiedlichen Gründen für diesen Film nicht in Frage gekommen. So habe er zunächst ohne Zeitzeugen mit den Dreharbeiten vor Ort begonnen und dabei in der Kinderpsychiaterin eine Art Verbündete gefunden. Über diese sei dann der Kontakt zu dem Herrn Wagner zustandegekommen, der sofort seine Mitarbeit zugesagt habe. („Als hätte er seit 40 Jahren darauf gewartet, darüber reden zu können.“) Obwohl er zunächst vorgehabt habe, sich auf diesen zu beschränken, habe er die anderen Opfer dann mehr oder minder zufällig in Idstein selbst getroffen.

Opfer-Täter: Eine Diskussion entstand unter den Zuhörern um die Frage, ob es nicht gut gewesen wäre, auch die Täter vor die Kamera zu bekommen. Warum er in diesem Punkt nicht hartnäckiger gewesen sei? Bergs: er sei in diesem Zusammenhang an den Personen der Täter nicht interessiert. Er habe der Gefahr entgehen wollen, daß diese dann womöglich wiederum die Opfer in den Hintergrund drängten oder man am Ende womöglich noch Mitleid mit ihnen bekomme. Hätten die diesbezüglichen Aktivitäten des Herrn Wagner jedoch zum Erfolg geführt, hätte er die Kamera in diesem Moment allerdings auch nicht abgeschaltet. Bergs Zurückhaltung in diesem Punkt schien den meisten Zuschauern denn auch plausibel. Es sei ja auch immer problematisch, wenn man Einzelpersonen repräsentativ für ein kollektives Verbrechen vor die Kamera zerre und so den Rest gleichzeitig entlaste Aufrechterhalten wurde jedoch von mehreren der Vorwurf, daß die Dramaturgie des Films einen Spannungsbogen erzeuge, der bei den Zuschauern unwillkürlich eine Erwartungshaltung in Richtung ‚Enttarnung der Täter‘ erzeuge. In diesem Punkt laufe der Film Bergs-durchaus nachvollziehbarer Grundüberlegung entgegen.

Dokumente-Kommentar: Ein Diskussionsteilnehmer lobte ausdrücklich, daß Bergs, im Gegensatz zu anderen, ähnlich gelagerten Filmen, keinerlei Zugeständnisse an das ja fortdauernde Verdrängungs- und Harmoniebedürfnis der Einwohner mache. Doch der Aktualitätsbezug (Stärke der Republikaner, Widerstand gegen das Mahnmal, etc.) werde leider nur im Kommentar deutlich. Hier habe er sich Dokumente und Belege gewünscht, Bergs dazu: er habe sich bewußt gegen eine solche ‚journalistische‘ Arbeitsmethode entschieden. Natürlich hätte er dazu allemöglichen Leute (im Bild) befragen oder vielfältiges Material aus den Archiven zeigen können. Das habe er jedoch unterlassen, um nicht von den Opfern abzulenken, die eindeutig im Vordergrund des Films stehen sollten.

Bilder, Töne und Grundsätzliches: Ein Zuschauer fand die Wahl des Haupt-Zeitzeugen unglücklich, da durch seine ‚einfache Art‘ oft der Eindruck entstehe, seine Aussagen/Formulierungen seien nur die Ergebnisse von Diskussionen mit den Filmemachern. Ein anderer hatte Probleme mit manchen Zwischeneinstellungen. Die seien vielfach völlig beliebig, ohne unterstützende Funktion für die Aussage des Films. Schließlich erschien einem weiteren die Musik an einigen Stellen, vornehmlich am Schluß, zu melodramatisch und bombastisch. Nachdem Bergs die Diskussionswürdigkeit mancher dieser Entscheidungen eingeräumt hatte, gab ein Diskussionsteilnehmer zu bedenken, daß es bei einem Film natürlich grundsätzlich immer Dinge gebe, die man hätte anders oder zusätzlich machen können. Das sei jedoch stets eine schwierige Sache, da solche Hinzufügungen nicht, wie in der Mathematik die Summe des Ganzen erhöhten, sondern sich dann ein völlig neues Geflecht von Gewichtungen und Interferenzen ergebe. Das betreffe auch die Täter-Opfer-Problematik. Man müsse sich auch immer bewußt sein, daß, wenn man da mit einer Kamera auf tauche oder gar einen Film für das Fernsehen drehe, man den Personen nicht (nur) als Privatmensch gegenübertrete, sondern unwillkürlich auch eine Modellfunktion dafür gewinne, wie öffentlich mit solchen Menschen umgegangen werde. Solche Kontakte funktionierten immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig und seien notwendig in sich widersprüchlich.

Einzelne Sequenzen

‚Historisches Stadtfest‘: einem Zuschauer erschien diese Szene entschieden zu lang, da sie so im Vergleich zu anderen Blöcken ein viel zu großes Gwicht bekomme. Es wäre besser gewesen, mit dem ‚Thema‘ zu beginnen und diese Festszenen vielleicht häppchenweise in kontrastiver Funktion zu montieren. Ein anderer wiedersprach dem. Sie sei gerade in dieser Länge am Anfang des Films bedeutsam, da der erste Eindruck skurriler Witzigkeit zunehmend in den einer beklemmenden Groteske übergehe.

‚Zusammentreffen der beiden Opfer am Bahnhof‘: Der Kritik, daß diese Szene praktisch keine neue Information liefere, sondern die Verworrenheit der beiden Männer fast schon zum Lachen reize und so schließlich deren Glaubwürdigkeit in anderen Szenen rückwirkend in Frage stelle, widersprach der Regisseur. Er habe beispielsweise bis dahin nicht gewußt, daß die einzelnen Kinder Nummern gehabt hätten. Mehrere Zuschauer sahen in diesem Gespräch ‚geradezu einen Glücksfall‘ und eine zentrale Szene des Films. Hier gehe es nicht um Belege und Verläßlichkeit, sondern gerade di e Verworrenheit des Gesprächs veranschauliche auf erschreckende Weise die Unfähigkeit der Opfer, über ihre Erlebnisse zu kommunizieren. So werde deutlich, daß sie weiterhin Opfer des kollektiven Schweigens über dieses Kapitel deutscher Geschichte sei.

‚Übergabe des Dokumentes durch einen Zeitzeugen‘: Warum Bergs mit diesem Schriftstück nicht wie mit dem Kirchenbuch verfahren und daraus zitiert habe? Man sehe die Übergabe und frage sich die ganze Zeit, was denn darinstehe.

Das habe er unterlassen, so Bergs, weil es sich in diesem Fall um teilweise recht diffuse Erinnerungen handle, die ein Moment der Unklarheit in den Film gebracht hätten, das er habe vermeiden wollen. Das ‚Kirchenbuch‘ sei ihm hingegen wichtig gewesen, um deren Zynismus deutlich zu machen. Wenn die sich heute damit brüste, der Euthanasie ein Ende gesetzt zu haben, sei das geradezu grotesk, wenn man doch andererseits wisse daß sie davor jahrelang stillschweigend an diesem Geschehen partizipiert habe. Ein anderes Dokument, die Liste mit den Unterschriften zur Begnadigung der Täter, sei zwar noch erhalten, eine Einsichtnahme ihm jedoch verwehrt worden. So funktioniere der ‚Datenschutz‘ in solchen Fällen auch als ein Instrument der Verdrängung.