Film

Xabûr
von Nafis Fathollahzadeh
DE, IR 2023 | 30 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 47
9.11.2023

Diskussion
Podium: Nafis Fathollahzadeh, Şermin Güven
Moderation: Katja Lell
Protokoll: Noemi Ehrat

Synopse

Am Khabur, dem längsten Nebenfluss des Euphrats im Norden Syriens, wird das Fotoarchiv einer archäologischen Ausgrabungsstätte unter dem Vergrößerungsglas betrachtet. Zum Vorschein kommen Aufseher, Arbeiter:innen und die Mauern des Kapara-Königreichs. Und mit ihnen die Stereotype einer imperialistischen Geschichtsschreibung. Was wird von wem aufgenommen – und für wen? In der Neusortierung der Archive melden sich Statuen als Zeug:innen einer noch andauernden zynischen Kolonialpolitik zu Wort.

Protokoll

Als Navigationshilfe durch die inhaltliche und formale Dichte „Xabûrs“ dient vermutlich am besten Ariella Azoulay. Wie Nafis Fathollahzadeh im auf Deutsch und Englisch geführten Gespräch mit Katja Lell sagt, wollte die Regieperson eine Art Übung zu Azoulays theoretischen Ausführungen machen. Die Brown-Professorin hat in ihrem Werk „Potential History: Unlearning Imperialism“ formuliert, wie das fotografische Archiv dabei helfen kann, kolonialistische Konzepte zu „entlernen“, das Buch wird auch im Abspann des Films erwähnt. „Was wir als reparative Methode tun können, ist nicht die Restitution des Objektes, sondern von Erinnerungen, von einer verlorenen Kosmologie“, so Fathollahzadeh.

Diese Dichte des Films verlangt dem Publikum einiges ab und Moderatorin Lell begegnet dem einleitend mit kontextuellen Fragen. Fathollahzadeh hat für den Film mit Şermin Güven, einer auf grenzüberquerende Flüsse und die Region spezialisierten Anthropologin zusammengearbeitet, die heute Abend ebenfalls anwesend ist. Dies erlaubt es dem Gespräch, ausführlich auf den Nordostsyriens, insbesondere Rojava, und den namensgebenden Fluss Khabur, der sowohl in der Region als auch im Film zentral ist, einzugehen.

Zur Motivation, den Film zu machen, sagt Fathollahzadeh: „Im Pergamonmuseum war da dieser grosse Vogel, und daneben ein grosses Porträt von Max von Oppenheim.“ Es gäbe viele Bücher darüber, wie grossartig von Oppenheim und sein Vermächtnis seien, und Fathollahzadeh habe sich gewundert, wie das Museum dies nicht hinterfragen könne. Also habe Fathollahzadeh tausende Fotos der Max-von-Oppenheim-Stiftung gesichtet, sowie Tagebücher und Briefe und weitere Dokumente des Ausgrabungsteams. „Ich habe mich gefragt, an was sich die Statuen erinnern würden, wenn sie Erinnerungen hätten, und für mich war klar, dass dies der Fluss sein müsste, der immer da war“, erläutert sie die Bedeutung des Khaburs.

Lell kommt mehrmals auf die verschiedenen Stimmen im Film zu sprechen: Es sei nicht immer klar, wer spreche, die Stimmen der Skulpturen und der Menschen überlagern sich. „Für die Skulpturen haben wir einen abstrakteren Sound kreiert“, beschreibt Fathollahzadeh das Konzept hinter den „steinigen“ Geräuschen. Auch eine kurdische Stimme ist zu hören, die theoretisch-historischen Kontext zu den gezeigten Fotografien liefert und diese einordnet. Güven sagt dazu, „Die Sprache, die verstummt worden ist, wird so selbst zum Diskurs gemacht“.

Doch nicht alle im Publikum scheinen an diesem (hier nur verkürzt dargestellten) Exkurs zum Kontext Gefallen zu finden. Es meldet sich ein Zuschauer, der wissen will, ob man auch noch über den Film sprechen könne. Er hat denn auch gleich eine Frage an Fathollahzadeh, oder eher eine Anmerkung. „Diese ganzen Layer, diese Kontexte, die ihr jetzt liefert, sind ja auch im Film drin, nur habe ich das Gefühl, dass es jetzt nötig ist, das noch zu erzählen.“ Wieso hätten sie dem Film nicht mehr Luft gegeben, mehr Raum für Resonanzräume? Für ihn entwickle der Film so eine Form von Aggressivität. „Ich verstehe, dass es viel ist für Personen, die nicht mit der Region und ihrer Geschichte vertraut sind“, erwidert Fathollahzadeh. Und überlegt weiter, ob die Dichte auch eine Folge der multiplen Übersetzungen ist: der von Fathollahzadeh auf Englisch verfasste Text wurde auf Kurdisch übersetzt und gelesen, um ihn dann für die Untertitel auf Deutsch zu übersetzen.

Güven schlägt vor, dass es sich um Hilflosigkeit statt um Aggressivität handeln könne. Bereits zuvor hatte sie gesagt, dass der Film wie ein Training für das untrainierte Auge sei: „Vielleicht ist der Film ein Wegweiser, wie wir unser koloniales Auge dekolonialisieren können.“ Ein weiterer Zuschauer kommt später darauf zurück: Er müsse immer noch über den Begriff der Aggressivität nachdenken. Auch er schlägt eine andere Sichtweise vor. „Ich fand es interessant, wie der Film fast schon eine Methode entwickelt, um Beweise zu liefern“, sagt er. Es sei wie eine temporeiche Art, Beweismaterial auf einen Tisch zu legen, ein Strang aus Argumenten. Für ihn sei dies eine Stärke des Films.

Moderatorin Lell hatte den Teil des Films, in dem Fotos aus dem Archiv auf einem Tisch ausgelegt werden, passenderweise als „tabel lecture situation“ bezeichnet. Erst müsse man sich durch viele Tore und Staub durchkämpfen, um die Fotos betrachten zu können, führt Fathollahzadeh den Gang ins Archiv aus. „Durch die Kombination der verschiedenen Fotografien entstehen verschiedene Lesweisen der Bilder“, sagt Fathollahzadeh. Güven sieht die Wichtigkeit des Films auch darin, dass er diese Arbeit und Recherche aus dem Archiv und aus der Bibliothek rausholt und in dieser „table lecture“ öffentlich macht.

Lell will von Fathollahzadeh wissen, wie Fathollahzadeh nun zur Fotografie stehe, hat die Regierperson doch ursprünglich Fotografie studiert und sich nun sehr kritisch mit dem Medium auseinandergesetzt. „Ich habe beschlossen, meine Kamera wegzulegen und mich stattdessen mit existierenden Fotos auseinanderzusetzen und die Bedingungen und Umstände ihrer Existenz zu betrachten“, führt Fathollahzadeh aus. Der Auslöser der Kamera, der bei Azoulay wichtig ist, und der potenziell gewalttätig sein kann – nicht umsonst spricht man davon, ein Foto zu „schiessen“ –, kommt in „Xabûr“ denn auch vor, nur eben nun eingebettet in das sich bewegende Bild, für das die Filmkamera ihren Blick auf die koloniale Kamera richtet.

Zum Schluss interessiert sich eine Zuschauerin für die Aufnahmen des Pergamonmuseums und seiner Baustelle im Film. Fathollahzadeh antwortet, dass die Renovierung andauere und ein Teil der mesopotamischen Sammlung, in der viele der Skulpturen der Ausgrabung von Oppenheims enthalten sind, in einem neuen Erweiterungsbau „im Rahmen des neuen Masterplans für Berlins Prestigeprojekt, die Museumsinsel“, wie es im Film heisst, untergebracht werden solle. Dies verdeutlicht, dass die kolonialistische Geschichtsschreibung längst nicht abgeschlossen ist, sondern weitergeht – ebenso wie die im Film erwähnten von Deutschland an die Türkei verkauften Militärdrohnen. Fathollahzadehs Film stellt eine direkte Anwendung von Azoulays Konzepten und eine Intervention dar, wenn auch eine, die von den Zuschauer:innen viel fordern kann.