Film

Miyama, Kyoto Prefecture
von Rainer Komers
DE/JP 2022 | 97 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 46
12.11.2022

Diskussion
Podium: Rainer Komers
Moderation: Mischa Hedinger
Protokoll: Marius Hrdy

Synopse

Seit 30 Jahren lebt Uwe mit seiner Frau in den Bergen von Miyama nördlich von Kyoto. Ein deutscher Shakuhachi-Spieler in der Diaspora, Einheimischer und Außenseiter. Zwischen Reisanbau und Ruhrgebietsschnauze entfaltet sich Alltag. Die Klänge der Flöte verwirbeln im Augenblick, Vergangenheit drängt in den Vordergrund. Was passiert morgen? Wo lässt man sich beerdigen? Ein Fresko des Wachsens und Vergehens.

Protokoll

„Miyama, Kyoto Prefecture“ expandiert den Kinosaal schon bevor der Film begonnen hat. Regisseur Rainer Komers liest zur Begrüßung des Publikums eine Nachricht von Protagonist Uwe vor: „Nach zwei Monaten in Europa bin ich froh wieder in meinen Nebelbergen zu sein“…“nie den Kontakt mit dem Boden verlieren“. …“Die Entscheidung kommt vom Boden wie beim Gehen auf der Noh-Bühne“. „Immer mit dem großen Zeh zuerst.“

Im Gespräch danach nähert sich Mischa Hedinger ebenso behutsam dem Boden auf dem „Miyama, Kyoto Prefecture“ gewachsen ist, an. Er geht sogar ein paar Schritte zurück nach 2018 und Komers Film „Barstow California“ und behauptet, Komers Landschaftsfilme sind so gemacht, dass er seine Protagonist:innen in enger Verbindung mit der Landschaft zeigt. In „Miyama“ geht es nicht nur um den Protagonisten Uwe, sondern auch um die Jäger, Förster, Fleischer, die dort ihren Arbeitsalltag verrichten – vor allem um die Umgebung, in der Uwe seine innere Heimat gefunden hat.

Komers stimmt dieser Beobachtung zu. Für ihn ist „eine einzelne Figur immer nur Teil des Ganzen, mit dem man in gegenseitiger Abhängigkeit lebt.“ Komers später, (aber thematisch hier passend vorgezogen): An der Struktur der Ortserkundungen arbeitet er schon länger. Dann lächelnd: Er kann gar nicht gut in Innenräumen drehen, vor allem in deutschen Wohnzimmern „verfällt er in eine Schockstarre“. Er erwähnt sein Interesse an den widerständigen Elementen in der Natur und wie sich der Mensch mit diesen Widerständen umgeht. Hedinger interessiert ebenfalls, wie Komers an diesen Ort gekommen ist?

Nach Danksagungen an die „Ermöglicher:innen“ des Films (von Komers liebevoll-scherzend als „key collaborators“ bezeichnet) erzählt er vom ersten Mal, als er von „Uwe-San“ bei der Vorbereitung seines Films „Kobe“ (2006) zum ersten Mal gehört, und dann elf Jahre später ihn in Kyoto getroffen hat. Das erste Treffen in Miyama schildert Komers als ein kleines Abenteuer: Er fuhr mit dem Bus (Nr. 32) bergauf über mehrere Pässe, wo man an Bushaltestellen vorbeikommt, „wo Schilder stehen, die vor Bären warnen.“ Dann kam Uwe „im kleinen Daihatsu“ und nahm ihn mit. Während des Gesprächs entschuldigte sich Uwe plötzlich, holte eine Kettensäge und musste „mal Holz machen“. Da wusste Komers schon, dass er mittendrin in Uwes Geschehen und damit inmitten dieses Projekts war.

Hedinger greift dieses „auf-sich-zukommen-lassen“ auf: „Man kann einen Ort entdecken und Menschen kennenlernen, ohne dass der Film geradeaus auf etwas hinzielt. Wie fest ist in diesen losen Zusammenhängen eine Struktur im Schnitt oder vor Ort mit der Kamera geplant?“ Komers erklärt, dass er sich zuerst ansieht, was die Leute in einer Gegend so machen. Im Miyama-Tal hatten die Bewohner:innen früher hauptsächlich von der Waldwirtschaft gelebt. Er schließt eine bildhafte Referenz zum im Filmwochenprogramm ebenso laufenden „wunderbaren Film „Kayu Besi“ über Holzarbeiter in Indonesien, gibt sich begeistert davon „wie die den Wald hobeln dort“, und kommt zurück nach Miyama. Nach dem Krieg war das Tal ganz stark geprägt von eingewanderten Künstler:innen und der Ort hat sich dann auf den Tourismus konzentriert.

Hedinger begeistert eine Szene im Film, in der ein kommunistischer Parteipolitiker sein Wahlprogramm vorstellt. Komers sagt, dass „wir da schon mittendrin in der medialen Vermittlung sind. Deutsche Medien berichten nicht über japanische Kommunisten — obwohl diese oft 8-9% bei japanischen Wahlen gewinnen und zum Beispiel schon den Bürgermeister von Kyoto gestellt haben. Der KPJ-Wagen kam zufällig beim Drehen in Miyama vorbei und sie haben ihn dann angehalten.

Hedinger möchte von Komers noch mehr zum Schnitt und der Form hören. Komers bedient sich wieder eines Vergleichs mit „Barstow, California“, der einen Text vom amerikanischen Dichter Spoon Jackson als Grundlage hatte. Obwohl ein „Sprech-Analphabet“, hat sich dieser im Gefängnis in St. Quentin weitergebildet. Den Text, den Komers zusammen mit dem Ko-Autor Gregor Bartsch schließlich für seinen Film nahm, war „stark lektoriert“. Er hatte ihn in der Fördereinreichung eingebaut, sich beim Drehen aber dann wieder davon gelöst, um dann nur Ortsbeschreibungen aus Spoons Biographie zu nehmen, weil er diese nicht einfach so „illustrieren“ wollte. Für Miyama hatte er auch Uwe gebeten, dessen Biographie aufzuschreiben. „Aber Uwe ist ein Performer. Und so einen Text zu schreiben war nicht sein Ding.“

„Oft wird gesagt, im Dokumentarfilm entsteht der Film am Schneidetisch – das ist ja so nicht immer ganz richtig. Diesmal sind wir im Material erstickt“, so Komers. Der erste Schnitt von „Miyama“ war mit 150min. viel länger als die in der Förderzusage bestätigten 70min. Sie mussten also kürzen. Bei Probevorführungen fragte sich Komers „ob das ein Film ist, über einen Deutschen in Japan oder ein japanisches Dorf, in dem auch ein Deutscher lebt?“ Er hat sich dann für letzteres entschieden. Komers assoziative Exkurse im Sprechen führen die Diskussion auch zu Holzschnitten von Hokusai, „wo Dörfler mit Schirmen durch den Schnee laufen“.  Sie lassen die Inspiration zum Gesehen teilhaben und legen offen, wie Komers sich der Figur Uwe annäherte.

Für Hedinger ist auffällig, dass Uwes Lebensgeschichte erst am Ende erzählt wird, wenn er etwas knapp über die Gründe spricht, wie er zufällig in Japan gelandet ist. Komers erzählt etwas mehr über Uwes Vater, der beim Bäckeraufstand in Thüringen erschossen wurde. Aus Angst vor der Zwangsadoption Uwes – seine Familie galt in Sippenhaftung danach als „Vaterlandsverräter“– ging er mit seiner streng religiösen Mutter nach Westdeutschland. Komers fasst die bisherigen Fäden zusammen: „Da ist also jetzt keine starre Struktur, sondern Versuch und Irrtum.“

Hedinger öffnet für Publikumsfragen. Michael Baute ist „mikrostrukturell aufgefallen“ dass die Kamera in ein paar Szenen einen Schwenk „über die Hände runter und wieder raufmacht“. Dies ist vor allem auffällig in einer Szene, in der Waldarbeiter Kawamura am Tisch sitzt und über seine verletzten Hände spricht, mit denen er vorhin noch Bäume umschnitt. Hat er diese Kameratechnik entwickelt, ist dies – so Baute schmissig – „ein Signature Move – Gesicht-Hand“? Komers zur Kameraperspektive: Er habe kein Japanisch verstanden, vielleicht war das die Verlegenheit, die sich hier in der Kamera ausdrückte. Er wusste auch, dass Holzfällen gefährlich ist. Kawamura bekommt umgerechnet einen Euro für das Fällen einer Fichte, eine Schwerarbeit. „Nach einer halben Stunde Drehen war der total durchgeschwitzt“, sagt Komers.

Baute interessiert weiters Uwes Integration im dörflichen Leben. Der Film hat für ihn am Anfang erzählt, dass Uwe im Dorf integriert scheint, Reis pflanzt, Shakuhachi-Flötenunterricht gibt, launige Unterhaltungen beim Abendessen mit Dorfbewohner:innen hat. Später aber handelt der Film davon, dass er mit dem Konflikt um den Abriss seines Hauses aus dem Dorf ausgeschlossen, der das Bild des harmonischen Zusammenlebens bricht. Komers antwortet knapp, dass die Dorfbewohner Uwe „hart angehen“, weil sie ihn als einen von ihnen sehen, aber auch weil Uwe eben ein „Lebenskünstler“ ist, der vermutlich überall in der Welt nicht so einfach ankommt.

Hedinger spinnt dieses Thema weiter, arbeitet Momente der Einsamkeit Uwes im Film aus. Wie er zum Beispiel mit seiner Frau Mitsuyo gemeinsam Reis anpflanzt, lernt man „schon sehr viel über deren Zweierbeziehung.“ Mitsuyo bringt das Geld ins Haus – sie arbeitet in einer Käserei in der Nähe.

Eine weitere Publikumsfrage gilt den technischen Spezifika: mit wie vielen Leuten arbeitet Komers in seinem Team? Gab es Herausforderungen mit den Drehgenehmigungen und Rechtefreistellungen von den Leuten im Dorf zu bekommen oder ging das alles informell?

Komers arbeitete in einem kleinen Team und für ihn war es bezüglich der Genehmigungen das „absolute Paradies“. Besonders dankbar ist er Uwe und der Mitarbeiterin Hiroko Inoue, die gegenüber den Dorfbewohner:innen für ihn und sein Team die Hand ins Feuer gelegt haben. Das half, die Zuneigung der Leute zu gewinnen: „Diese Vorarbeiten hinter der Kamera sind manchmal ganz schön wichtig.“

Im Schließen begriffen bezieht sich Hedinger noch auf den schalkischen Humor Uwes, mit dem er auch mit der Kamera spielt. Wie hat Komers das Verhältnis gefunden mit ihm zu drehen? „Die Kamera ist ja sein Medium“, sagt Komers. Sie sind auch ein bisschen seelenverwandt, sind ja beide aus dem Ruhrpott und lieben es, „etwas mit den Händen zu machen.“ So kommt die Diskussion wieder ins hier und jetzt zurück. Die Filmwoche endet, das Publikum verlässt den Saal. Immer mit dem großen Zeh zuerst.