Film

Lydia
von Christian Becker
DE 2021 | 22 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 45
13.11.2021

Diskussion
Podium: Christian Becker, Oliver Schwabe (dramaturgische Beratung)
Moderation: Jan Künemund
Protokoll: Eva Königshofen

Synopse

Lydia und Wolfgang B., ein wohl situiertes Ehepaar und ausgewiesene Amateurfilmer. Angenehm beschwipst auf Städtereise. Wolfgang träumt davon, vor Studierenden frei und flüssig zu sprechen. Lydia übersetzt Apollinaire. Sie sehen Kriegsbilder im Fernsehen. Man könne nicht klagen, es gehe einem doch gut. Gemeinsamer Kurbesuch, Uneinigkeit über streitbare Bekanntschaften. Das intime Porträt einer bürgerlichen Ehe zwischen Krankheit und Begehren, Bildungsdünkel und TV-Programm, Ängsten und Humor.

Protokoll

„Willkommen zur allerletzten Schicht, auch wenn man den Begriff jetzt nicht kurz vor Ende noch überreizen sollte“, begrüßt Jan Künemund das Publikum zum letzten Filmgespräch der 45. Filmwoche unter dem Motto „Schichten“. „Lydia“, der letzte Film im diesjährigen Programm, bietet es aber gerade zu an, noch einmal auf die Schichten zu sprechen zu kommen. Denn „Lydia“ ist ein besonders – sorry – vielschichtiger Film, was die Montage des Amateurmaterials betrifft, von dem Filmemacher Christian Becker ausgegangen ist.

Die Amateur:innen und damit zugleich Co-Autor:innen und Protagonist:innen des Films sind Wolfgang und Lydia. Er ist Professor für Romanistik, sie Übersetzerin französischer Literatur. Über Jahre hinweg hat sich das Ehepaar gegenseitig auf Fotos und Super-8 portraitiert, ihren Alltag dabei ebenso dokumentiert wie ihre Bildungsreisen, Arbeitsbezogenes ebenso wie den Rémy Martin am Feierabend. Das größtenteils aus den 1970-ern stammende Bildmaterial hat Becker, Filmemacher und Neffe der beiden, mit Tagebucheinträgen Wolfgangs aus den 90-ern konfrontiert, die in protokollhafter Monotonie vom Leben des Paares berichten, das zusehends von Lydias Krankheit dominiert wird. „Lydia“ ist gewissermaßen die Film-Werdung des ohnehin schon bildlastigen Privatarchivs, das Becker noch um weiteres Material ergänzt: Bilder von politischen Ereignissen, die das Paar beschäftigten, wie etwa der rassistische Anschlag von 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Jan Künemund wirft die Frage auf, inwiefern dieses Archiv möglicherweise schon bei seiner Entstehung auf eine Öffentlichkeit hin gedacht wurde, zumal es sich beim Verfasser des Tagebuchs um einen Romanistikprofessor handelt? Sicherlich hätte sein Onkel sich auch für Tagebücher und Memoiren als literarische Form interessiert, entgegnet Becker, Tante und Onkel hätten ihn aber lediglich darum gebeten, das Material aufzubewahren. Infolge lenkt Künemund das Gespräch auf die „entscheidende Asymmetrie“ der Materiallage, schließlich hatte Becker nur Einsicht in das Tagebuch Wolfgangs, sind es nur dessen Gedanken, die als Voice-over hörbar werden – nicht Lydias. Allerdings ist Lydias Befinden zentrales Thema in Wolfgangs Notizen. „Daher auch der Titel“, erklärt Becker.

Das Publikum zeigt sich auch nach vier Tagen Festival und zu später Stunde noch wach und gesprächslustig. Alejandro Bachmann ist von der Darstellung des Verhältnisses der Protagonist:innen zueinander irritiert. Er scheitere in seiner Seherfahrung, weil Wolfgangs Perspektive stärker ist und die Härte in seiner Stimme wiederum einen harten Blick auf Lydia suggeriere, deren Eigenleben der Film dennoch herauszuarbeiten vermag. Sie hätten es mit verschiedenen Sprecher:innen probiert und sich dann bewusst für eine Stimme entschieden, die eine Dringlichkeit transportiert, die aus den Tagebucheinträgen zu ihnen gesprochen habe, sagt Oliver Schwabe, der die dramaturgische Beratung übernahm. Katharina Pethke stört sich am Verhältnis von Text und Bild, die Bilder hätten keinen Found Footage-Charakter, sondern erschienen ihr eher als Beweisführung für den Text, sodass sie während des Films „die ganze Zeit über auf eine Pointe gewartet“ habe. Überhaupt sei ihr der Film sehr hermetisch vorgekommen. Gerade das Hermetische entspräche aber der Lebenswelt von Wolfgang und Lydia und „passt insofern ganz gut“, kontert Becker.

Es folgen einige Nachfragen zum Ton und zur Verwendung von Amateurbildern. Letztere interessierten ihn besonders, weil sie wie Aufnahmen „vor und nach der Klappe am Filmset“ seien, sagt Schwabe und bezieht sich damit auf die eigentümlich sensationsarme Dramaturgie von Amateurfilmen, die Künemund bereits zu Beginn betont hatte. Nämlich, dass Amateurfilme besonders spannend seien, gerade weil sie das Spannende meist ausließen, weil die Kamera meist fallen gelassen würde, wenn etwas Unvorhergesehenes oder Dramatisches passiere. Zuletzt kommt das Gespräch noch einmal zurück zum Reiz des „Genres Tagebuchfilm“ und schlägt damit – zumindest retrospektiv betrachtet – einen Bogen zu Naama Heimans autbiographischem Essayfilm „Picnic at Hanging Rock“, der ein paar Stunden zuvor für Diskussionsstoff hinsichtlich Aneignung, Grenzüberschreitung und Preisgabe sorgte. „Mal schauen“, beschließt Künemund das vorerst letzte Filmgespräch, „wo man hier heute Abend in Duisburg noch einen Rémy Martin bekommt“.