Synopse
Morgengrauen in einer westdeutschen Industriestadt. Während die Eltern in der Fabrik arbeiten, gehen ihre Kinder in die Schule. Dort begrüßt sie Herr Bachmann, dessen Pädagogik weniger durch Treue zum Lehrplan, denn durch Präsenz besticht. Mit großer Offenheit begegnet der Lehrer im AC/DC-Shirt seinen Schüler:innen, erprobt mit ihnen spielerisch neue Rollen und lässt sie über sich hinauswachsen. Eine Beobachtung über das Gelingen von Miteinander.
Protokoll
Vertauschte Rollen: Eine Schulklasse wuselt am Vormittag lauthals die Treppe im Filmforum empor und strömt in eine Vorstellung von „doxs!“. Die erwachsenen Cineast:innen lassen sie passieren, um sich 217 Minuten lang Schule im Kino anzusehen. Angesichts eines ersten Rohschnitts von 20 Stunden Länge, wie Bildgestalter Reinhold Vorschneider (Regisseurin Maria Speth präsentiert den Film da gerade in New York) in der Diskussion zu „Herr Bachmann und seine Klasse“ offenbart, ist die fertige Fassung nurmehr ein Augenzwinkern.
In dieser Zeit lernen wir die Schüler:innen aus Bachmanns sechster Klasse an der Georg-Büchner-Schule in Stadtallendorf kennen. Nahezu jede und jeder hat hier eine Migrationsgeschichte. Die Eltern oder auch die Kinder selbst kommen aus Kasachstan, Weißrussland, Marokko, Rumänien oder der Türkei. Elternsprechtage, Lehrerzimmer, Zeugniskonferenz. Dazwischen: Pausenhof und Pubertät. Im Mikrokosmos Klassenraum fließen Tränen, Situationen eskalieren, Jugendliche entschuldigen sich, machen dicht und öffnen sich wieder. Klassische Unterrichtsmethoden sind selten. Bachmann jammt mit den Kids, ermutigt sie, nimmt sich Zeit und spricht über Privates.
Hängen bleibt vor allem das Erstaunen über diese Klasse. Bachmann selbst bezeichnet in einer Szene alle Kinder aus Stadtallendorf als mutig und behält recht. Die Soziologie spricht von „bildungsfernen Milieus“, Bachmann schwärmt vom „Kreuzberg in der Provinz“. Damit fixt er auch seinen langjährigen Freund Vorschneider und dessen Lebensgefährtin Speth um 2010 an. Was Hassan, Stefi oder İlknur dazulernen oder ohnehin schon können, beeindruckt schwer. Die Leichtigkeit, mit der sie zwischen den Sprachen und Kulturkreisen wechseln, die Dynamiken, die sich unter ihnen entfalten. Die Konzentration, mit der sie Instrumente spielen oder die Inbrunst, die sie beim Singen oder im Boxring packt. Wie überraschend sie traditionelle Geschlechterrollen in Frage stellen oder sich ihre Meinung in Bezug auf Religion oder Homosexualität bilden.
Im Mittelpunkt steht „Herr Bachmann“ selbst. Verklärt ihn der Film? Ist er zu übergriffig und wird nur sein Erfolg im direkten Umgang mit den Schüler:innen, nicht aber sein mögliches Scheitern als Wissensvermittler gezeigt? Reinhold Vorschneider kennt diesen Vorwurf. „Der echte Bachmann hätte niemanden interessiert“, beschreibt er die filmische Verdichtung seiner Figur. Das Pflichtprogramm, wie er Mathematik oder Grammatik unterrichtet, spart der Film aber größtenteils aus, konzentriert sich lieber auf die soziale Interaktion seiner Protagonist:innen und die spannenden Szenen, die sich jenseits des Curriculums ereignen.
Forciert sei keine dieser Situationen im Klassenraum. „Wir waren anwesend“, beschreibt Vorschneider die Herangehensweise und den Dreh völlig untertreibend. Sieben bis acht Stunden wurde pro Tag mit zwei Kameras gedreht, die einfach mitliefen. Der Tonmeister angelt selbst oder steckt Mikrofone in Federmäppchen. Wenn eine Nahaufnahme Sinn ergibt, erfordert das bei den verwendeten Festbrennweiten eine tatsächliche, physische Annäherung. Wie gelingt diese Balance zwischen Nähe und Distanz? Zwischen strikter Beobachtung und der Vertrautheit die nötig ist, um die Jugendlichen die Kamera vergessen zu lassen? Viele Besuche im Rechercheprozess gehen dem eigentlichen Dreh voraus. Später jammt auch die kleine Crew mit der Klasse, springt bei der Hausaufgabenbetreuung ein. Vielleicht hilft aber auch die Medienaffinität dieser Generation, die sich und die eigene Peer Group ständig in Selfies medial verbreitet und für die es ganz natürlich scheint, überall gefilmt zu werden.
Alejandro Bachmann hakt nach, ob denn die Kritik am Bildungssystem und der Diskurs um den Kompetenzerwerb von Menschen mit Migrationsgeschichte bewusst im Konzept des Films angelegt war. Vorschneider kennt auch diese Frage, die sich erst in der medialen Rezeption stellte, für ihn und Maria Speth in ihren Vorüberlegungen aber keine Rolle gespielt habe. Er will sich mit dem Lehrer Bachmann gemein machen, der auch kein pädagogisches Konzept verfolge. Alejandro Bachmann kauft das keinem von beiden ab. Ist es nicht auch eine Entscheidung und somit ein konzeptueller Ansatz, sich den Normen des Bildungssystems zu verweigern?
Vorschneider gibt zu, dass es für Bachmann vielleicht auch die einzige Möglichkeit war, innerhalb des starren, deutschen Schulsystems zu überleben. Im Kollegium hat er seiner unkonventionellen Methoden wegen nicht nur Fans. Analog zu ihm versperrt sich auch der Film und fordert allein mit seiner Länge heraus. Vorschneider verrät kopfschüttelnd, dass seine Lebensgefährtin Speht keine strukturierte, sondern eine emotionale Herangehensweise an das umfangreiche Material hatte. Die Montage dauerte drei Jahre. Wie gut das Timing und der Humor darin funktioniert, davon zeugen die zahlreichen, lauten Lacher beim Screening, die Pointen sitzen.
Der Film trotzt aber auch einer klassischen Dramaturgie. Zwar entwickeln sich Protagonist:innen, Konflikte werden ausgetragen und kehren wieder. Und doch mäandert das Schuljahr dahin, ohne große Spannungskurve oder dramatische Wendungen. „Herr Bachmann und seine Klasse“ fesselt trotzdem bis zur letzten Einstellung. Der Gong ertönt, die Pause beginnt. Alle bleiben sitzen.