Film

How to Disappear
von Leonhard Müllner, Robin Klengel, Michael Stumpf
AT 2020 | 21 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 44
4.11.2020

Diskussion
Podium: Leonhard Müllner, Robin Klengel, Michael Stumpf
Moderation: Luc Schaedler, Alejandro Bachmann
Protokoll: Marius Hrdy

Synopse

Fahnenflucht ist nicht vorgesehen. Im realen Krieg ebenso wenig wie in der hyperrealen Welt des Ego-Shooters „Battlefield V“. Die Software sanktioniert jeden Versuch, das Schlachtfeld zu verlassen: „Desertion cannot be played.“ Im Game ist der Deserteur der Spielverderber, im Krieg der Staatsfeind. Auf der Oberfläche des Onlinespiels verbindet sich die virtuelle Fahnenflucht mit ihrer tatsächlichen Geschichte. Eine Studie über die Möglichkeiten des Verschwindens. Ein Loblied auf den Ungehorsam.

Protokoll

How to Disappear ist eine filmische Reflexion der Desertion anhand des Videospiels Battlefield V. Battlefield ist ein Ego-Shooter in Zweiter-Weltkriegs-Setting, mit maximal 64 zugelassenen Spielern aufgeteilt auf zwei Kriegsparteien. Die Verwerkungen des Spiels erinnern an das Foucaultsche Panopticon – das Ordnungsprinzip von Überwachungsgesellschaften –, da hier die Software bestimmend und allsehend zugleich ist. Sie ist versteckt omnipräsent und duldet keine Abweichung vom Gameplay. Die Filmemacher versuchen mit bewussten Interventionen, die lineare Regellogik des Spiels zu unterminieren.

Nach einiger Besprechung im Hintergrund beginnt das Filmgespräch im virtuellen Raum. Luc Schaedler begrüßt die anwesenden Filmemacher und Zuseher/innen zur 44. Duisburger Filmwoche. Er erklärt detailliert das Prozedere. 38 Leute seien im Chatroom, Personen mit Fragen dürften sich mit dem Zoom-Handsymbol bemerkbar machen und würden dann auch selbst im Bild erscheinen. Auffällige Bildhintergründe der Diskutanten: eine Küche in Zürich, eine Werkstatt nahe Wels, ein Metropolis-Poster, eine Tapete nahe Turku.

Schaedler beginnt mit seiner Erfahrung während Filmsichtung mit der Auswahlkommission im Kino. Er sah das Kornfeld im ersten Bild des Films und wunderte sich ob der Qualität des Beamers, merkte aber schnell, dass er sich doch in einer virtuellen Welt vorfand. Dort bemerkte er auch die filmische Absicht, dass er nicht in einem realen Spiel war, sondern durch den Schnitt in eine Verbindung mit einem Film ging. Die Bilder stünden in Kontakt mit den Worten, kontrastierten, manchmal griffen sie auch zurück auf das vorher gesagte. Eine existenzielle Komponente kam dann für ihn hinzu: dass aus dieser Welt zu desertieren nicht vorgesehen sei.

Schaedlers erste Frage gilt dann auch der Idee – kam diese aus dem Spiel heraus oder war diese durch den Text informiert? Leonhard Müllner erklärt die Faszination der Filmemacher von unsichtbaren Grenzen, die sie zum Thema der Desertion brachten. Michael Stumpf sieht den Prozess der Spiel- und Recherchearbeit als wechselseitigen Einfluss zueinander. Die ursprünglich angedachte Auseinandersetzung mit Deserteurslektüre fand nicht in den Film. Einerseits gab es das Scheitern dieser ersten Idee und andererseits die Idee der Regelsysteme und Spielmechaniken in Kriegen gepaart mit der Unmöglichkeit, das intendierte Battlefield-Gameplay zu verlassen. Dadurch fanden sie zu ihrem Konzept, strukturelle Analyse mit einer Geschichte des Regelbruchs zu vereinen.

Schaedler möchte mehr über den Voiceover-Text wissen. Robin Klengel meint, er sei von ihnen einfach abgeschrieben worden. Er verweist auf einen Text von Ulrich Bröckling, der Disziplin und Disziplinierung des Militärs analysiert und wie deren Motivationssysteme funktionieren, die in weiterer Folge über das Militär hinaus auch auf die Gesellschaft ausstrahlen. Schaedler interessiert auch, wie die Filmemacher mit dem Material gearbeitet hätten, da ihr Film ja nicht wirklich im vorgegebenen Narrativ des Spiels selbst stattfände.

Stumpf erklärt, dass im Fall von Battlefield es für ihn keine Umgebung gab, sondern nur die Möglichkeit als körperlose Kamera, als Zuseher dabei zu sein. Dabei filmten sie ihre eigenen obstruktiven Interventionen in das Spielgeschehen. Müllner meint, die Teilnehmer/innen wussten davon nichts und wunderten sich, warum sie nur nicht richtig mitmachen wollten. Ihnen fällt die Szene mit einem Offizier ein, der sich aus dem Spiel ausloggte, weil sie ihn robbend umkreisten und daran hinderten, am Geschehen teilzunehmen. Im Gespräch benennt Müllner wiederholt das gezielte Versalzen, das „Verhunzen“ des Spiels, als ihre Revanche an ehrgeizigere, „reale“ Mitspieler. Für mich wirft dieses Insistieren die Frage auf, ob sich in der strategischen Negation selbst nicht ein ähnlicher Ehrgeiz bei den Filmemachern ausdrückt.

Klengel fügt hinzu, wenn ein Avatar an die Grenze der begehbaren Welt stoße, würde die Welt grobschlächtiger. Wenn man in Battlefield von den vorbestimmten Pfaden ausbrechen möchte, werde auf einmal alles sepiafarben und man werde dann von der Software exekutiert. Mich erinnert dies an prämoderne Heldennarrative. Dort gibt es eine Metapher, die immer wieder auftaucht: Der Held sucht die Nähe zum Wald, weil nur darin Abenteuer geschehen können. Beispielsweise in der Artusepik bei Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Im Film wird wiederum erzählt, dass, um der Desertion beizukommen, ab dem 18.-Jahrhundert-Kriegen keine Camps in der Nähe von Wäldern aufgestellt wurden, damit niemand ins Ungewisse verschwinden könnte.

In Battlefield wird das Verstecken im Busch, die Obstruktion als Abweichung empfunden, da das Spiel eine Linearität voraussetzt. Spieler nehmen hier Teil, um Krieg zu spielen. Niemand fragt, wozu oder warum. Stumpf ergänzt, das mächtigste Tool sei, dass Spiele so „gestreamlined“ wären, dass man durch die Mission nie die Frage stellen würde, was passiert, wenn man sein Umfeld auslotet, da es nicht relevant scheint. Müllner setzt nach: Spiele vermitteln zwar eine Freiheit, aber in Wirklichkeit sei man in einem engen Korsett, die Disziplinarmaßnahme sei beim Versuch des Verlassens schnell zu sehen. Schaedler erweitert seine Frage, ob diese Disziplin auch über den Gruppenzwang funktioniere, durch die Verantwortung und die Folge des Unsolidarischen, weil sie ihre Kolleg/innen nicht im Stich lassen wollten. Klengel sieht den Korpsgeist als wichtiges Element. Historische Söldnerarmeen wären gerne am gemeinsamen meutern gewesen, um Geld abzupressen. Heutzutage sei es eher sozialer Selbstmord, zu desertieren. Stumpf kontrastiert hier, dass im Spiel als Ersatz für realen Korpsgeist das Verhalten in der Gruppe quantifiziert würde: Für alles gäbe es Punkte auf einem Scoreboard oder eine Anerkennung.

Der virtuelle Zuschauerraum öffnet sich für das Publikum und Alejandro Bachmann interessiert die Verbindung von Gaming und der Präsentation des Films auf einem Filmfestival. Gäbe es da Punkte, an denen sie sich abarbeiten, filmische Werke, die sie dabei inspiriert hätten? Bachmann meint weiter, zu Farockis Ernste Spiele könne man hier Bezüge herstellen. Vielleicht habe auch der Soundtrack damit zu tun, der in diesem Film eine Immersion und Faszination, einen Sog entwickelt. Müllner antwortet kokett, dass sie dieses Massenmedium, das vor allem mit Schönheit operiert, mit ihrem „versteckten Agitprop“ einschmieren und einölen wollten. Klengel spricht dabei von einem Upcycling der Kulissen, aber auch dem konkreten Ziel, die Logik dieser Bilder zu dekonstruieren. Offensichtlich wird: Es gibt in Battlefield keinen Platz für eine ambivalente Figur wie den Deserteur. Ähnlich ist es mit der Selbstbestimmtheit des Soldaten. Er handelt, seine Handlung hat aber keine Gedanken. Der Avatar hat keine Angst, er hat auch keinen Hunger. Damit ist er wiederum dem prämodernen Heldennarrativ nahe, eingeschlossen in seinem eigenen Abenteuerraum und -zeit.

Stumpf erläutert weiter, dass Einschränkungen auch helfen würden. Es gehe um das Fahnden nach Bildern, die anders funktionieren als das vorgegebene Ideal, um Performances innerhalb des Spiels zu finden, um eine humorvolle Bildsprache, die die rigide Spiele-Ästhetik durchbricht. Wie könne man einen Deserteur zeigen, wenn das Spiel dem durch und durch kriegerischen Avatar keine Waffe wegzuwerfen erlaubt?

Die Diskussion neigt sich nun zum nicht-planbaren im Dokumentarischen. Bettina Braun erkundigt sich, wieviel im Vorfeld als Drehbuch vorhanden war, und wieviel die Filmemacher im Material gesammelt hätten, beziehungsweise ob die Text-Assoziationen im Original stehen gelassen und mit ihnen experimentiert wurde. Stumpf erläutert, es hätte schon einige Ideen für Performances innerhalb des Spiels gegeben, aber sehr viel entstand im Spielen oder im Laufe des Drehens. Auf den Spielkarten herumzulaufen erschien ihnen nicht als sinnvoll, sie suchten eher nach einer Logik in der Interaktion. Eine Folgefrage von Braun thematisiert das Drehverhältnis. Es hätte im Durchschnitt zehn Versionen einer Szene gegeben, oft weil jemand im Spiel gestorben sei. Es sei kein linearer Prozess gewesen, auch im Schnitt hätte es immer wieder Änderungen gegeben, es gab kein klassisches Storyboard.

Eine weitere Zuschauerfrage führt uns zum Regelbruch zurück. Jedes Spiel habe Regeln. Wäre das nicht der größte Unterschied zum echten Krieg, der kein Spiel sei, während jedes Spiel nur eine Simulation sei? Müllner betont den Unterschied im Englischen zwischen Play und Game. Play allein für die Freizeit und Game als kompetitives Spiel, das in diesem Fall von einem Algorithmus überwacht wird. Sie wollten eine „Playfulness“ einführen, wobei die real Spielenden selbst sehr spielerisch operierten, etwa um im Spiel Abschneider zu finden um Rekorde zu brechen. Spiele seien für ihn keine Simulation, da „echte“ Simulationen durch ihre Zweckgebundenheit eine Ernsthaftigkeit hätten.

Schaedler erwähnt nun, dass gewisse Leute „mit dem Zug in Duisburg nach Hause fahren müssten“. Müllner nützt den letzten Moment zu einem Abschlussplädoyer: Computerspiele bildeten nicht nur ab, sondern würden eine Gesellschaft formen. Es würden kompetitive Ideale vermittelt, die alles andere als offensichtlich seien. Mainstreamspiele formulierten reale, kapitalistische Werte und seien gleichsam deren Produkte. Um mit dem Film zu sprechen: holzschnittartige Narrative sind sichere Investments.

 oben: Robin Klengel, Leonhard Müllner v.l., unten: Luc Schaedler, Michael Stumpf v.l.
oben: Robin Klengel, Leonhard Müllner v.l., unten: Luc Schaedler, Michael Stumpf v.l.