Film

Una Primavera
von Valentina Primavera
AT/DE/IT 2018 | 80 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 43
05.11.2019

Diskussion
Podium: Valentina Primavera
Moderation: Luc Schaedler
Protokoll: Sebastian Markt

Synopse

Nach 40 Jahren Ehe verlässt Fiorella das gemeinsame Haus an der Adria und reicht die Scheidung ein. Valentina, die jüngste Tochter, begleitet ihre neue Freiheit, die schnell eng wird. Mit radikaler Privatheit dokumentiert sie die Konflikte und Konfrontationen und legt das patriarchale Prinzip offen, das tief in der Familie verankert ist. Auch in Fiorella.

Protokoll

Valentina Primaveras Film, der, wie Luc Schaedler es in der Diskussion beschreiben wird, in einem doppelten Sinn etwas sichtbar macht – eine private Familiengeschichte öffentlich machen und dabei auf eine politische Dimension, auf patriarchale Familienstrukturen zu sprechen zu kommen –, entlässt das Publikum in einer emotionalen Ambiguität, die sich einer einfachen narrativen Auflösung verweigert. Eine Ambiguität, die sich auf dem kurzen Weg vom Kino zum Diskussionsraum nicht ablaufen lässt, auch deshalb nicht, weil sie zur Sache gehört.

Luc Schaedler beginnt die Diskussion mit einer Reminiszenz: Wie er als junger Ethnologiestudent ohne vorherige Filmerfahrung mit seinem ersten Film zur Duisburger Filmwoche eingeladen wurde, deren Diskussionen der Ruf vorrauseilte, mit einer gewissen Härte geführt zu werden. Die Angst davor damals (Made in Hong Kong, 1997, Diskussionsprotokoll Nr. 19 – die Angst scheint unbegründet gewesen zu sein) und die Freude heute als Moderator zurückkehren zu können. Auseinandergenommen wird auch heute niemand, das Gespräch ist ein konzentriertes Befragen von Vorraussetzungen und Entscheidungen. Es werden, wie bereits am Eröffnungsabend, Fragen von Haltung und ihre ästhetischen wie moralischen Konsequenzen erörtert, hier ausgehend von der Situation, die eigene Familie (und sich selbst) zu Protagonist*innen einer dokumentarischen Arbeit zu verdoppeln. Die Diskussion kommt immer wieder auf die Begriffe von Distanz und Verantwortung: Distanz, die es möglich macht etwas zu erkennen; Verantwortung, die Luc Schaedler als eine doppelte, sich überlagernde einführt: gegenüber den Protagonist*innen, gegenüber der filmischen Arbeit selbst.

Das auslösende Moment, die Arbeit am Film zu beginnen, erzählt Valentina Primavera, war das flüchtende Weggehen ihrer Mutter vom Vater und dem gemeinsamen Haus im Umland von Roseto degli Abruzzi, nach 40 Jahren Ehe, kaputt und mit dem Wunsch nach einem neuen Leben. Erst nach Wien, dann nach Berlin, wo die beiden drei Monate lang zusammen in einer kleinen Wohnung lebten. Der doppelte Bruch, im Leben ihrer Mutter und in der Beziehung der beiden, ermöglichte einen neuen Blick auf die Familienkonstellation, der für die Filmemacherin ein anderer ist als er für die Tochter war, die die Konflikte im Elternhaus zu ertragen hatte. Nach dem Umzug der Mutter in eine kleine Wohnung zurück in Italien, fährt sie mit der Kamera nach, dreht zunächst für eine Woche, kommt wieder, insgesamt für etwa sechs Wochen. Primavera betont den Charakter eines Fragments, das Material des Films umfasse ein paar Wochen aus dem Prozess des Ausbruchs (und der schlussendlichen, veränderten Rückkehr ihrer Mutter in die Beziehung zu ihrem Vater), der ein Jahr lang andauerte. Es ging in der Arbeit darum, mit diesem Fragement zu arbeiten, etwas daran sichtbar zu machen, das über die Privatheit der Situation hinaus erlaubt, Strukturelles begreifbar zu machen, eine Konstellation von Menschen und einer gelernten Unfähigkeit, mit Problemen umzugehen, einer Sprachlosigkeit darüber. Die Entscheidung in der Montage auf Anekdotisches zu verzichten, das im Moment zur Geschichte gehöre, dem weiteren Anliegen des Films aber nichts hinzufüge, schließt daran an, wie ihr auch in der Diskussion wenig daran gelegen ist, ein Vorher und Nachher dessen, was im Film zu sehen ist, weiterzuerzählen. Aussparen erscheint als eine Form des Sichtbarmachens. Eine Diskutantin beschreibt ihren Eindruck bewundernd mit dem Motiv einer bildhauerischen Arbeit: dem Freilegen von tieferliegenden Strukturen.

Ein wichtiges Moment der erkenntnisfördernden Distanzierung lieferte die Zusammenarbeit mit ihrem Partner, dem Regisseur und Editor Federico Neri. Sie arbeiteten in einem insgesamt 15-monatigen Schnittprozess abwechselnd und zusammen mit dem Material, tauschten sich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven aus, versuchten Punkte zu finden, von denen aus eine universelle Geschichte erzählbar wird. Und wer sonst solle mit diesem Material arbeiten können, als jemand den man liebt?

Die Balance der Doppelrolle als Tochter und Regisseurin sei ein schwieriger und nicht abzuschließender Kampf gewesen, die notwendige Distanz erlaubte der lange und komplexe Prozess der Arbeit am Film. Auf eine spätere Nachfrage aus dem Publikum führt sie das noch detailierter aus: Als Filmemacherin und als Tochter präsent zu sein, habe Fragen aufgeworfen, die sich auch situativ auswirken; die gelegentliche Unsicherheit der Kamera sei die Ausformulierung einer Frage: Was kann ich noch entdecken, das über die Wörter hinausgeht?

Bedingung der Möglichkeit war das Vertrauen, das ihre Familie ihr entgegenbrachte. Insbesondere ihre Mutter habe über die Dauer des Gefilmt-werdens verstanden, dass es in einem Kontext, in dem die Last, die bestimmte Geschlechterverhältnisse Frauen auferlegen, oft zu Schweigen führen, darum ginge, etwas zur Sprache zu bringen, und ihr eine Stimme zu geben. Die Premiere in Leipzig habe das auch für ihre Mutter nochmal verdeutlicht: zu sehen, dass ihre Stimme viele Menschen erreicht, in aller Schmerzhaftigkeit und Widersprüchlichkeit.

Die ins Publikum geöffnete Diskussion vertieft Fragen der Dramaturgie (im Film, wie im Leben): insbesondere die als unvollständig lesbare Emanzipation der Mutter, die gegen Ende des Films zum Vater zurückkehrt, beschäftigt die Zuseher*innen. Primavera gibt zunächst ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass die Tatsache des Films nichts an der Entscheidung der Mutter geändert habe. Die Entscheidung selbst sieht Primavera vielschichtig: die Mutter gehe zunächst vor allem deshalb zurück, weil sie ihr Recht auf das familiäre Haus geltend macht. Die Frage ob der Ausbruch nun sinnvoll war oder nicht, hatte sich auch allen Involvierten gestellt. Fest stünde jedenfalls: Etwas hat sich verändert. Das Leben sei nicht einfach nur richtig oder falsch. Eine daran anschließende Frage betrifft das Haus, das Primaveras Eltern unter großem persönlichen Aufwand erarbeitet und erbaut haben. Hätte es als materieller, filmischer Raum eine größere Rolle spielen sollen? Primavera holt nochmals aus, und erläutert die kulturelle Bedeutung eines eigenen Hauses. Diese sieht sie im Film durchaus präsent. Momente unterschiedlicher Domestizität erzählen sich auch über das Essen, gerade die Differenz zwischen dem Mortadella-Brot, das ihre Mutter in der Wohnung der Oma isst, und dem großen Familienfestessen zu Ostern zurück im Haus spricht für sie in dieser Hinsicht Bände.

Am Ende kehrt die Diskussion noch einmal zu spezifischen, ästhetischen Entscheidungen zurück: Sich selbst gleich am Anfang ins Bild zu setzen sollte klar machen, dass hier aus einer spezifischen Perspektive erzählt wird, und der im Film präsenten Stimme ein Gesicht verleihen. Der Moment der Aushandlung dessen, was gefilmt werden kann und was nicht, der in einer anderen frühen Szene präsent ist, als die Mutter sich für den Gerichtstermin anzieht, solle klar machen, dass ein Verhältnis aus Empathie und Komplizität bestünde, eine Basis des Umgangs miteinander im Zusammenhang des Gefilmt-werdens. Die graduelle Öffnung auf andere Figuren folge dem Wunsch, weitere Dimensionen der Konstellation zu erschließen, insbesondere was die Beziehung von Frauen über die Generationen hinweg anbelange.

„Wenn ich eine Geschichte zur Verfügung stelle, dann können andere diese Geschichte benutzen, um über ein Thema zu sprechen“, sagt Primavera. Das Publikum greift die Gelegenheit dankbar auf und setzt sie fort, auch draußen noch, als die Diskussion im Saal schon zu Ende ist.