Film

Another Reality
von Noël Dernesch, Olli Waldhauer
DE/CH 2019 | 98 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 43
05.11.2019

Diskussion
Podium: Olli Waldhauer
Moderation: Bettina Braun
Protokoll: Alissa Larkamp

Synopse

Beats, Bodybuilding, Business: Auf der Suche nach der besten Version ihrer selbst bewegen sich Agit, Ahmad, Parham, Kianush und Sinan stilsicher auf dem deutschen Großstadtparkett. Zwischen Kiosk, Fitnessstudio und Eigenheim verarbeiten sie geplatzte Träume, Drogenerfahrungen und Gefängnisaufenthalte ebenso wie „Kanaken“-Klischees und die Tücken des deutschen Rechtsstaats. „Achim statt Ahmad – dann würde die Welt anders aussehen.“ Ein Männerporträt.

Protokoll

Als Einstieg in die Diskussion wird Selbstinszenierung als wichtiger Punkt der Auseinandersetzung mit dem Film erfasst. Bettina Braun möchte sich dieser auf drei Ebenen nähern: Inszenierung der Protagonisten in ihrem Alltag, Inszenierung für die Kamera und Entscheidung der Kamera und in der Montage, sich zu den beiden vorhergegangen Punkten zu verhalten.

Die fünf Hauptpersonen bewegen sich in kriminellen Milieus deutscher Großstädte; einem Umfeld, in dem die permanente Darstellung von Maskulinität für ein Bestehen essentiell ist. Dies mündet in eine Notwendigkeit, Schwächen nur bedingt zu zeigen. Daraus ergibt sich für Bettina Braun die Frage, ob diese eingeübte Performanz Raum für Ehrlichkeit und Wahrheit ermöglicht. „Keiner ist frei von Selbstinszenierung“, entgegnet darauf Olli Waldhauer. In einer Umwelt geprägt durch Machoverhalten bliebe dies ebenso nicht aus. Um mit der Inszenierung für die Kamera zu brechen, haben die Filmemacher die Protagonisten ihr „Pulver verschießen lassen und gelangweilt geguckt“. Auf diese Art des Auflaufenlassens sollte erreicht werden, dass – besonders zu Beginn der 4-jährigen Dreharbeiten – die Intention klar wurde, kein Promovideo produzieren zu wollen.

In Szenen des Films erzählen sie selbst von Lügen – z. B. nachdem ein Protagonist seine ehemalige Lehrerin traf und ihr berichtet, dass er studiere. Der Filmemacher entgegnet, dass es immer wieder ein Prozess sei, sich selbst beim Lügen zu ertappen, um dann keine Wertung in den Erzählungen der Protagonisten vorzunehmen: „Denn sicherlich wurde auch das Filmteam angelogen und stellenweise instrumentalisiert.“ Im Schaffensprozesses sollte eine Augenhöhe kreiert werden, in der miteinander und nicht übereinander gesprochen wird. Außerdem sei die durch die geteilte Regieführung entstandene Kontrollinstanz im Team sehr wichtig gewesen, um Entscheidungen über Wahrheit und Lüge treffen zu können. Dabei habe man Lügen ins Leere laufen lassen. Denn der verbale Versuch, explizit nach Wahrheiten zu fragen, führt nicht zwangsläufig zu Wahrheiten. Es erfordert eine Entscheidung darüber, welcher Strang weiterverfolgt wird, und diese beruht auf einem Bauchgefühl. Dieses entwickelt sich dadurch, dass bei einem langen Drehzeitraum sowieso Menschen miteinander interagieren, weil die Chemie stimmt. Das Fallenlassen und Weiterverfolgen von Erzählsträngen schlug sich auf den Drehablauf nieder. Olli Waldhauer berichtet von mehreren Recherchedrehs, die nicht weitergeführt wurden, weil die Geschichten sich als dünner erwiesen als vorerst behauptet. „Du musst für dich kalkulieren, ob der Pfad gut ist“, so der Filmemacher.

Bettina Braun äußert die Frage, ob Abmachungen mit den Protagonisten getroffen wurden. Aufgrund einer juristischen Verantwortung sprachen Filmemacher und Protagonisten darüber, dass keine Verbrechen gedreht werden: „Was wir nicht wollten, ist einen Film machen und am Ende sind fünf Leute weniger im Kino“, so Waldhauer. Es wurden daher Pausen gemacht, wenn „Situationen“ aufgekommen sind. Speziellen Szenen im Film, in denen z. B. Unterhaltungen über Straftaten stattfinden, konnten nur Verwendung finden, weil zu dem Zeitpunkt der Montage der Strafprozess bereits abgeschlossen war.

Die verschiedenen Städte der Protagonisten vermischen sich und es entsteht das Gefühl einer in sich geschlossenen Welt. Bettina Braun stellt die Frage, inwieweit nach Berührungspunkten mit dem Außen gesucht wurde. Ihr wird von Olli Waldhauer entgegnet, dass die Darstellung der Geschlossenheit der Welt der Tatsache entspringe, dass die Protagonisten tatsächlich ausschließlich unter sich waren. „Klar bewegen wir alle uns in Deutschland, aber das bedeutet nicht, dass man Kontakt zueinander hat.“ So sei es auch der „größte Kampf der letzten vier Jahre gewesen, Frauen in den Film zu bekommen“. Aus dem Publikum bringt eine Teilnehmerin ein, dass es als Entscheidung der Filmemacher gelesen wurde, die wenigen Frauen (Tochter und Ex-Frau) zum Ende des Films bewusst einzusetzten, um diese mit einer erstrebenswerten, heilen Welt zu verbinden, die Frauen für die Protagonisten darstellen. Der Filmemacher verneint und wiederholt, dass es an den fehlenden Möglichkeiten gelegen habe. Ein weiterer Publikumsbeitrag unterstellt fehlendes Bemühen, da die Frauen auch direkt hätten gefragt werden können. Der Filmemacher weist auf die Schwierigkeit hin, dass das Vertrauen sowieso schon ziemlich fragil gewesen sei.

Formal arbeitet der Film oftmals mit untersichtigen Einstellungen. Interviews werden mit Jump Cuts gebrochen und wirken so szenisch aufgelöst; ihnen wird in der Montage ein Flow gegeben. Es drängt sich die Frage auf, ob der Umgang der Kamera und der Montage die Protagonisten dekonstruieren wolle oder sich den Ästhetiken der Gangsterdarstellung bediene. Dies öffnet erneut Raum für die Frage, wie Augenhöhe im Film verstanden wird. In einem Publikumsbeitrag wird diese nicht als eingelöst verstanden, da sie ein Dazwischen darstellen würde – zwischen dem Blick der Filmemacher auf die Protagonisten und deren Selbstdarstellung. Jedoch würde die Übernahme der rapkulturellen Ästhetiken die Protagonisten nur bedienen und nicht genug hinterfragen. Waldhauer weist auf das Verständnis hin, den Protagonisten Raum zu geben und sie sprechen zu lassen. Dem cineastischen Stil steht entgegen, dass mit einer Optik gedreht wurde, mit der Bildgestalter Friede Clausz bei Close Ups sehr nah an die Protagonisten herantrat – das auch bei Personen, denen er zum ersten Mal begegnet. Mit der Editorin Gesa Jäger sei es eine bewusste Entscheidung gewesen, die Dialoge auf diese Art aufzulösen, um die Essenz des Gesagten herauszuarbeiten. Die Auflösung bedeute kein „Schulerklopfen“, keine Heroisierung, so Waldhauer. Nach seinem Verständnis handelt es sich um eine neue Generation von Filmemacher*innen. Durch veränderte Sehgewohnheiten werden Deutungsrichtungen verändert; Untersicht bedeute daher nicht mehr zwangsläufig Heroisierung.

Ein weiterer Publikumsbeitrag sieht Qualität darin, dass Figuren sichtbar werden, die im medialen Diskurs wenig stattfinden. Die weitergeführte Anmerkung sieht jedoch in der cinematopgraphischen Auflösung ein Verpassen, Momente des Filmischen aufzuspüren, die eine weiterführende kritische Auseinandersetzung ermöglichen würden. Die Herangehensweise des Films, so Olli Waldhauer, ist es jedoch, auf die Momente zu vertrauen, in denen sich die Protagonisten selbst hinterfragen und dadurch Reibung zwischen der Welt, die von ihnen erzeugt werden soll, und darin liegenden Brüchen aufzuspüren.