Film

SPK Komplex
von Gerd Kroske
DE 2018 | 111 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 42
09.11.2018

Diskussion
Podium: Gerd Kroske, Carmen Roll (Protagonistin)
Moderation: Till Brockmann
Protokoll: Laura Reichwald

Synopse

Diagnosen als Waffen, Hysterie in Akten: Das Sozialistische Patientenkollektiv begriff 1970 im Deutschen Spätsommer psychische Krankheit als Leiden am System. 50 Jahre später Gespräche über eine wechselseitige Radikalisierung, in der ein vorrevolutionäres Heidelberg vermutet und manch kritischer Student zum RAF-Sympathisanten wurde.

Protokoll

Hermann Hesse sagte einmal: „Jedem Anfang liegt ein Zauber inne.“ – Dies trifft im Fall von Gerd Kroskes SPK KOMPLEX nicht nur auf den gewählten Filmanfang zu, sondern auf inhaltlicher Ebene auch auf die Bemühungen des frühen SPK, welches sich für eine andere Art der Psychiatrie einsetzte. Doch das kippte irgendwann, wie Kroske selbst schon zu Beginn des Films etabliert: „Wo die Gewalt einsetzt ist eine sehr schwierige Frage.“ Diesem Punkt des Umkippens, wollte sich der Filmemacher annähern. Wie er das tut, zeigt er bereits in der ersten Szene. Diese sei – wie oft in Filmen – richtungsweisend, bemerkt Till Brockmann. Kroske entscheidet sich für einen langen Gang durch ein Archiv. Eine Akte wird herausgenommen. Darin geblättert. Etwas entfaltet sich. Für ihn, so Brockmann, sei das eine symbolische Geste, einerseits für die enorme Recherchearbeit, die diesem Film zu Grunde liegt, und andererseits für das Festhalten, das Ausbreiten von Tatsachen verschiedener Art. Aber auch eine Geste des Widerstands, ergänzt Kroske, denn durch diesen Anfang entzieht er sich dem sonst üblichen Bilderkanon der Thematik, dem Archivrecycling mit altbekannten Bildern. Es sei schwierig gewesen, einen Punkt zu finden in den Film einzusteigen. Gerade in der heutigen Zeit, wo es Generationen gibt, welche die 68er nicht miterlebt hätten, und gleichzeitig schon ein festgefügtes Zeitbild von Autoren verschiedener Art etabliert wurde. Wenn man allerdings dahinter schaut, wie es SPK KOMPLEX häufig tut, dann merke man, dass dieses Bild so nicht stimmt, so Kroske. Allerdings ist es wahrscheinlich ein Vorteil gewesen, sagt der Filmemacher, dass er selbst die Zeit nie erlebt habe, sondern sich ihr erst später über Texte, Filme und anderen Archivmaterialien genähert habe.

Gleichzeitig etabliert Kroske mit der Wahl seines Anfangs auch, dass es verschiedene Stimmen und Materialien im Film geben wird und legt diesen Materialmix, der den Film prägen wird, offen. Und auch die Leerstelle des Films: Die Abwesenheit des Dr. Huber. Ähnlich wie dieser waren die Hauptakteure für den Filmemacher schwer auffindbar. Ein angedachter „Gegenspieler“ Dr. Hubers für den Film sagte komplett ab. Und so konzentriert sich Kroske bei der Auswahl seiner Protagonisten, wie schon beim Archivmaterial, auf die Zusammenstellung einer Mischung an Stimmen. Wer welche Position einnimmt und wie denkt, das offenbart sich für Kroske an der Art, wie jemand redet, wie er erzählt. Wenn er mit Protagonisten arbeite, dann wolle er natürlich etwas erfahren. Da gibt es Schwerpunkte, welche man gerne aufnehmen möchte, weil diese sich in der Recherche herausgeschält haben. Und gleichzeitig könne man nichts vorgeben, lediglich einen Möglichkeitsraum im Gespräch herstellen. Wie weit die Gesprächspartner innerhalb dieses Möglichkeitsraum gehen, das sei ihre Entscheidung. Gerd Kroske findet, dass sie im Falle von SPK KOMPLEX sehr weit gegangen seien. Es sei interessant zu sehen, wie sich Erinnerungen freilegen. Auf der anderen Seite gibt es für ihn dann den festen Diskurs zur Thematik, und das seien die beiden Pole, zwischen denen man sich als Filmemacher bewegt.

Schwierig für die Kameraarbeit im Film gestalteten sich allerdings die Räumlichkeiten, in denen Kroske die Interviews führte. Er erzählt, dass seine Gesprächspartner mittlerweile fast alle nicht mehr im Arbeitsleben stehen. Das natürliche Umfeld sei daher die eigene Wohnung, welche wenig spannende Bilder bietet. So stellte sich Kroske die Frage, wie man dies umgeht, ob man an Originalschauplätze gehen sollte, da sich bekanntermaßen Menschen an verschiedenen Orten unterschiedlich fühlen und dementsprechend auch verhalten. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Interview mit Marieluise Becker-Busche. Als eine der wenig verbliebenen Berufstätigen schlägt sie Kroske als Interviewort ihre Kanzlei vor. Diese empfand Kroske aber als optisch wenig reizvoll. Er drängte auf eine Verlegung ihres Gesprächs in die privaten Räume der Anwältin. Zögerlich stimmte sie letztendlich zu. Es sei ihr peinlich gewesen, wie bürgerlich ihre Wohnung war, und deswegen wollte sie dort eigentlich nicht drehen.

Ebenso wichtig wie der bewusste Umgang mit seinen Protagonisten und deren Vielstimmigkeit war für ihn die präzise Arbeit mit dem Mix an Archivmaterialien, welche die zweite Säule des Films bilden. Es sei wichtig zu wissen, mit welcher Art von Material man es zu tun habe und in welchem Kontext dieses entstanden sei. Die gefundenen Dokumente sind natürlich als Dokument selbst authentisch, aber eben doch auch Substrate, die als solche nicht authentisch sein müssen, erzählt Kroske. Bei der Suche nach den Archivmaterialien sei ihm zu Gute gekommen, dass die Gefangenen früher aufgrund der vorherrschenden Haftpolitik möglichst weit voneinander untergebracht werden sollten. Dadurch bildete sich kein wirkliches Zentralarchiv, sondern viele kleine Archive, zu welchen es einfacher war, Zugang zu bekommen. Mittlerweile habe sich aber auch die Art der Archivare geändert, berichtet Kroske. Früher wäre man eher verschlossen gewesen, während man heute wisse, welche Schätze man verwahre und die eigentlich auch zeigen möchte. Trotzdem gebe es eben in Deutschland ein Persönlichkeitsrecht, das eine Einsicht in Dokumente erschwert. Der Filmemacher erzählt, dass er deswegen oft unter dem Deckmantel der Wissenschaft auf die Archive zugegriffen habe.

Bei der Montage arbeitete Gerd Kroske erstmals mit zwei Editoren. Der Leitgedanke im Schnitt sei vor allem gewesen, herauszufinden wie die Entwicklungen waren – und nicht die konkrete Tat. Es sollte den Zuschauern ermöglicht werden, dazu eine eigene Haltung zu finden. Außerdem habe man versucht keinen Fernseh-, sondern einen Kinofilm zu erschaffen. Aus diesem Grund gäbe es keine Bauchbinden. Wobei auch andere Faktoren in diese Entscheidung hineinspielten; wie die Vermeidung einer Denunzierung, erzählt Kroske.

An mehreren Stellen wendet sich die Diskussion der anwesenden Protagonistin Carmen Roll zu.

Sie hätte die Zeit und deren Geist selbst miterlebt. Wie sei es jetzt, das mit Abstand auf Leinwand zu sehen, möchte Brockmann wissen. Roll erwidert, dass sie den Film erstmals auf der Berlinale sah und die Leute wiederzusehen die stärkste Emotion bei ihr hervorgerufen hätte. Das seien zum Teil Freunde gewesen, mit einem habe sie damals zusammengewohnt.

Sie erzählt, dass sie sich zu Anfang geweigert hätte, den Film zu machen, aber sich dann über die Zeit umstimmen ließ. Im Nachhinein sei sie froh darüber. Man müsse verstehen, wie damals ihre Situation gewesen sei. Sie ist 1976 nach Italien gegangen, weil sie in Deutschland nichts mehr hätte machen können. Und sie wusste, dass sie keine Politik mehr machen wollte, dass sie das nicht weitermachen könne. Mehr nicht. Die vier Jahre davor sei sie in Einzelhaft gewesen. Als sie dann in Trieste ankam, lief alles sehr gut. Während die in Deutschland Inhaftierten sich jahrzehntelang mit den Geschehnissen auseinandersetzen mussten, habe sie sich im Alter von 26 Jahren ein Leben in der Legalität aufbauen können.

Es sei seltsam gewesen, dass sie damals niemand jemand gefragt habe, was sie über ihre Vergangenheit denke oder ob sie aufhören wolle. Sondern alle fragten: „Was willst du machen? Wo willst du wohnen?“ Nach eineinhalb Jahren hätte man dann miteinander geredet, weil sie genug Italienisch konnte, aber es sei nie eine Bedingung gewesen. Die andere Sache war, dass sie damals auch keine intelligenten Antworten gehabt hätte. Da habe sie lieber geschwiegen.

Zum Thema „SPK“ ergänzt Roll im folgenden, dass immer unterschlagen wird, das Dr. Huber sich weigerte, Menschen nach Wiesloch einzuweisen. Sie seien damals einmal gemeinsam dort hingefahren. Zu der Zeit waren dort circa 2.500 Menschen eingeschlossen. Das habe sie empört, und das werde in den Erzählungen immer verschwiegen. Man müsse sich erinnern, dass der „Stern“ 1974 Bilder deutscher Irrenhäuser veröffentlichte. Das waren Lager mit Bildern wie denen am Ende des Films aus Leros. Aber die Ärzte und Kollegen von Dr. Huber wiesen jeden Tag dort Leute ein. Darüber werde nicht geredet, ebenso wenig wie über den Nazi-Aspekt der Psychiatrie. In den 1970er-Jahren sei der Krieg 25 Jahre vorbei gewesen, aber die Psychiater waren noch unter dem Nazi-Regime ausgebildet wurden. Beim SPK redete man darüber.

Später ergänzt Carmen Roll, dass es trotzdem immer das Risiko gab, dass ihr Leben und ihre Arbeit in Italien von ihrer Biographie eingeholt werde, „dass diese Geschichte festklebt, dass du so zu einem Monument wirst.“ In SPK KOMPLEX ist sie das gewissermaßen geworden.