Synopse
Zusammen mit ihren sechs Kindern hat sich Lucica in einer winzigen Wohnung in der Dortmunder Nordstadt und in ihrer Überforderung eingerichtet. Die Verständigung stockt – mit den Behörden, ihrem just Richtung Rumänien abgeschobenen Mann, der Filmemacherin. Armut als Hinnahme und eine Familie inmitten alltäglicher Notbehelfe.
Protokoll
„Guck mal, Bettina!“, ruft die kleine Beatrice aufgeregt als Bettina Braun sie, ihre fünf Geschwister und ihre Mutter Lucica in der neuen Wohnung besucht. Zu diesem Zeitpunkt ist Bettina am Ende ihrer anderthalbjährigen Dreharbeiten mit der Familie im Norden Dortmunds angelangt. Sie ist ein normaler Teil des Umfeldes der Kinder geworden, die Protagonistin Lucica nennt Bettina mal „Schwester“, mal „Mutter“. Zu Beginn der Dreharbeiten ist Lucica schon drei Jahre in Deutschland. Zuvor war sie aus Rumänien nach Frankreich und dann nach England gezogen. Dort hatte Bettina Lucicas Sohn Stefan kennengelernt und begonnen mit ihm zu drehen. Lucica war bald nach Deutschland gereist, sukzessive holte sie fünf ihrer Kinder und auch ihren Ehemann Daniel zu sich. Letzter wurde bald straffällig und musste ins Gefängnis. In dieses Setting fiel der Beginn der Dreharbeiten.
Nach einem halbstündigen WDR-Auftragsfilm über Kinder aus der Dortmunder Nordstadt, sah Bettina LUCICA UND IHRE KINDER als eine Weiterführung ihrer Arbeit. Dabei standen gewisse Ereignisse als Erzählstruktur im Vordergrund: Daniels Entlassung aus dem Gefängnis und folgende Abschiebung nach Rumänien, der Umzug von Lucicas ältestem Sohn Alex von den Großeltern in Rumänien nach Dortmund und das Bedürfnis nach einer größeren Wohnung. Bei der Konzipierung des Films wurden für Bettina auch immer Fragen nach nicht genutzten Möglichkeiten und Potentialen der Kinder aufgeworfen.
Durch das erste Kennenlernen in England verwundert es nicht, dass zu Beginn hauptsächlich Englisch als gemeinsame Sprache von Lucica und Bettina genutzt wurde. Im Laufe des Films verändert sich dies immer weiter zu einer Mischung aus Deutsch und Englisch. Anders als in ihrem vorherigen Film WAS LEBST DU?, arbeitet Bettina dieses Mal mit den Kamerafrauen Beate Scherer und Jennifer Günther zusammen. Die enorme Arbeitsbelastung, die für Bettina entsteht wenn sie zugleich Regie führt, Kamera und Ton macht, möchte sie nicht wiederholen. Dabei stimmt sie zu, dass zwar die Form an Direktheit bezüglich der Reaktionen ihrer Protagonisten auf die Kamera verliert, eine fehlende Zugänglichkeit macht Bettina dadurch aber nicht aus. So wurde auch keinesfalls die Kameraanweisung gegeben, immer zu filmen. Dass die Regisseurin aber ein klarer Teil des Films werden würde, stand jedoch früh fest. Mit dieser Entscheidung als Grundlage, filmten Beate und Jennifer auch einige Situationen, die Bettina als aktiven Part im Verhältnis zu Lucica zeigen. Dabei wird erstere in manchen Momenten besonders spürbar, beispielsweise in ihrem Kommentar zur siebten Schwangerschaft Lucicas. Bettina selbst sah sich während der Dreharbeiten beständig mit einem Abgleich ihrer eigenen Werte und Vorstellungen, mit Sympathien und Verständnis für Lucicas Situation konfrontiert. Genau wie Bettinas Präsenz floss auch ihre Aushandlung von Konflikten in den Film ein.
In Bezug auf die Möglichkeiten rein beobachtenden Filmens meint Jennifer, dass den gefilmten Personen die Drehsituation meist sehr bewusst ist und dass diese ein gutes Gespür und Selbstschutz für Dinge haben, die nicht gedreht werden sollten. So versteht sie es auch nicht als Ziel, die Protagonisten die Kamera vergessen zu lassen. Der Dialog, der sich zwischen ihnen und Bettina aufbaut, ist immer spürbar und kommuniziert eine persönliche Ebene. Die Familie indes verhält sich vor der Kamera sehr natürlich, sehr unmittelbar. Jennifer beobachtet dies vor allem bei den Kindern, die Bettina und die Kamera oftmals ansprechen. Für Bettina selbst standen in Bezug auf das Filmen oder Nicht-Filmen eher ethische Entscheidungen im Vordergrund. So ist die Kamera auch dabei, als es der Familie sehr schlecht geht, sie seit Monaten keinen Strom und kaum etwas zu essen haben. In dieser Situation entschied Bettina, nur noch alleine zu drehen. In der Montage fand dann ein erneuter Abgleich über die Momente, an denen es um die Grenze der Würde geht, statt.
Demnach geht es in der Diskussion mit dem Publikum auch viel um die Frage nach Abhängigkeiten. Bettina entscheidet sich im Film für eine direkte Konfrontation mit dem Thema. Schon früh wird Geld und die monetäre Unterstützung Bettinas offen angesprochen. Dabei glaubt die Regisseurin, dass Lucica keineswegs nur am Geld interessiert gewesen sei. Vielmehr erhoffte sich Lucica eine gewisse Sichtbarkeit ihrer Familie und konnte den Stolz auf ihre Kinder zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus versprach sie sich auch Gesellschaft, da sie in ihrem Alltag nur wenig Kontakt zu Erwachsenen hat – auch zur rumänischen Community Dortmunds. Neben einer Aufwandsentschädigung zahlte Bettina Lucica gesondert einen Stundenlohn für Szenen, die inszeniert wurden, wie beispielsweise das Putzen. Bettina meint, dass die allermeisten Protagonisten ihre eigene nonmonetäre Motivation für einen Dreh mitbringen. So auch Lucica.
Dass diese Bettina auf Augenhöhe begegnet, wird immer wieder deutlich. So thematisiert Lucica klare Grenzen etwa beim Dreh in Rumänien. Während Jennifer und Bettina gerne noch Eindrücke der Umgebung eingefangen hätten, das Sammelsurium von verfallenen Häusern neben protzigen brandneuen Gebäuden filmen wollten, untersagte Lucica dies den beiden eindeutig. Dieses Zugeständnis von Lucicas Macht war Bettina sehr wichtig auch im Film abzubilden. So war auch der Punkt, an dem die Protagonistin die Dreharbeiten abbrach, ein klares Aushandeln von Machtverhältnissen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Bettina schon viel Energie und Ressourcen in das Projekt gesteckt und war auf die Fortsetzung des Drehs angewiesen. Von Lucica gleichermaßen erkannt, stellte sie Geldforderungen an Bettina, um weiterzumachen. Anstatt diesen Teil hinter den Kulissen verschwinden zu lassen, deutet Bettina im Film spezifisch darauf. Für sie ist dies Bestandteil des ständigen Austarierens des Miteinanders. So hatte sie immer das Gefühl, eine zwischenmenschliche Nähe zu Lucica zu haben, die auch nonverbal funktionierte. So entschied sie sich auch – nach einem Test – bewusst gegen eine Übersetzerin am Set. Vielmehr sollten im Film auch die Grenzen der Kommunikation aufgezeigt werden. Dass Stefan als Verantwortungsfigur oftmals die Rolle des Übersetzers übernahm, wurde von Bettina nicht forciert.
Zunächst hatte die Regisseurin mit dem Gedanken gespielt, ihre Erlebnisse und Sichtweisen in einem Off-Text zu verarbeiten. So stellten sich auch viele Fragen an sie selbst: Wann ist es wichtig, etwas zu geben? Warum habe ich immer das Bedürfnis zu helfen? – Im Endeffekt entschied sich Bettina jedoch dagegen. Der Off-Text hätte zu einer starken Wertung des Materials geführt. Im Prozess der Montage habe sie gelernt dem Material zu vertrauen. Dabei erkannte sie, dass das Gerüst sehr wohl vorhanden war, auch ohne Off-Text.
Dass Lucicas Geschichte das Publikum berührt hat, wird sehr deutlich. Viele Fragen drehen sich um ihr Wohlergehen. Was ist aus der Familie geworden? Leben sie noch in Deutschland? Was passierte mit der Stromrechnung? Bettina berichtet, dass die Protagonistin nach wie vor in Dortmund lebt und sie immer noch in Kontakt sind. Der Strom wird über Raten abbezahlt, und Lucica ist zur Zeit zum achten Mal schwanger. Bettina muss selbst schmunzeln. Lebhaft kann man sich das Gespräch vorstellen, in dem Lucica ihr die Nachricht mitteilt. Dass diese ihren eigenen Kopf und Agenda hat, sei auch vielen Zuschauern aufgefallen. So habe es unterschiedliche Reaktionen auf den Film gegeben, vor allem in Bezug auf die Ambivalenz von Lucicas Persönlichkeit. Bettina unterstreicht jedoch, dass es in den insgesamt etwa 80 Stunden Material keine Stellen gegeben habe, die ein vollständig anderes Bild von Lucica zeichnen würden.
Fast wirkt es wie ein Happy End, das Bettina mit dem Umzug der Familie in eine größere Wohnung gefunden hatte. Dabei hatte es im Film immer wieder Momente gegeben, die ein Ende suggerierten: die Rückkehr des Stroms, die Ankündigung des neuen Babys. Dass der Umzug in die neue Wohnung noch in die Drehzeit fiel, lies Bettina zu der Entscheidung kommen, dass dies der geeignete Schluss sei. So hatte Lucica während der gesamten Dreharbeiten immer wieder versucht, eine größere Wohnung zu bekommen. Sie hatte Bettina jedoch nicht dabei haben wollen, um sich keine Chancen zu verbauen. Die unglaubliche Enge der alten Wohnung war jedoch immer spürbar gewesen, vor allem bei der Ankündigung eines weiteren Kindes. Dass Lucica die neue Wohnung mit privater Unterstützung ihrer Nachbarn Marina und Zülo bekommen konnte, zeigt laut Bettina auch einen weiteren wichtigen Aspekt: das größtenteils wohlwollende und unterstützende deutsche Umfeld der Familie.
So stellt sich eigentlich nur noch die Frage, wie Lucica und ihre Kinder selbst den Film aufgenommen hatten. Bettina lacht auf. Die Familie sei ins Zimmer rein und raus gelaufen, habe einzelne Szenen laut kommentiert und nach der Hälfte aufgehört zuzuschauen. Kurze Zeit später kam ein Anruf, dass die DVD verloren gegangen sei und ob Bettina nicht alle Bilder aus Rumänien noch einmal zusammenschneiden könne.