Film

Das Buch Sabeth
von Florian Kogler
AT 2018 | 30 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 42
07.11.2018

Diskussion
Podium: Florian Kogler, Andreas Schmiedecker (Buch)
Moderation: Alexander Scholz
Protokoll: Georg Kußmann

Synopse

Auf einen Tee bei der regsamen Slawistin und Künstlerin Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan: Kartons mit losen Manuskripten und Bildern, Regalböden voller Bücher und Mappen, Wände gespickt mit Fotos berühmter Weggefährten. Das Archiv eines intellektuellen Lebens, resolut beseelt durch Erinnerungen an Arbeit und Anerkennung, Verfolgung und Freundschaft. 

Protokoll

Eine vom Alter gezeichnete Frau am Übergang zwischen zwei Zimmern ihrer Wohnung stehend richtet wache Augen auf die Kamera. Die, als wäre der Kameramann von etwas getroffen, weicht zurück. So beginnt Florian Koglers und Andreas Schmiedeckers filmische Arbeit zur Künstlerin Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan. Schmiedecker, ehemaliger Student der Protagonistin, wurde eingeladen sich mit ihr und ihrem Werk auseinanderzusetzen. Kogler übernimmt die Regie. Gemeinsam und – wo es gut geht – gemeinsam mit ihrer Protagonistin versuchen sie, eine adäquate filmische Form für Person und Werk auszuloten.

Unter dem Vorwand eine Frage zu stellen, äußert sich Werner Ružička gegen Ende der Diskussion. Zwar sei er mäßig interessiert, sich weitergehend mit Leben und Werk der Protagonistin zu beschäftigen, dem Film aber sei es gelungen sie zum Leuchten zu bringen. Kogler und Schmiedecker hätten eine Tür gefunden und seien mit Skepsis hindurchgegangen. Dabei wäre etwas entstanden, das wie die Wohnung Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans sei: Vieles zugänglich, nicht alles werde gezeigt und einen verschlossenen Schrank gebe es, dessen Schlüssel nicht zu finden war. Weitere Hintergründe hätten nicht gefehlt.

Alexander Scholz beginnt das Gespräch mit der Frage nach dem Verhältnis der Filmemacher zu ihrer Protagonistin. Kogler antwortet, diese Frage sei durch den Entstehungsprozess des Films hindurch als Problem präsent gewesen. Scholz habe den Finger also gleich auf die größte Schwierigkeit des Projekts gelegt. Für Schmiedecker, der zuerst in Kontakt mit Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans gewesen sei, wäre es von Anfang bis Ende zentral gewesen zu bestimmen, was er von ihr und vom Film wolle. Schmiedecker fügt hinzu, es seien viele Impulse von Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan selbst gekommen. Das Verhältnis zur Öffentlichkeit sei für sie stets eine offene Frage gewesen, auf die sie nie eine abschließende Antwort formuliert habe. Eine Form zu finden, die den Ansprüchen aller drei Beteiligten gerecht würde, sei also zentrale Aufgabe bei der Herstellung des Films gewesen. Kogler ergänzt, sein Ansatz als Regisseur sei von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem Dokumentarfilm geprägt. Den dokumentarischen Zugriff auf Menschen empfinde er prinzipiell als schwierig, da man nicht darum herum komme, den realen Menschen zum Erzählen von Geschichten zu instrumentalisieren. Das empfinde er als dreist. Es müsse das Ziel sein, ohne Geschichten denken zu lernen. Beispielsweise wisse er in einem narrativen Sinne nicht, weshalb der Kameramann in der ersten Einstellung zurückgewichen sei. Er finde diese Bewegung aber trotzdem wunderbar.

Scholz lenkt ein, seiner Meinung nach sei es den Filmemachern durchaus gelungen durch die Kameraarbeit, die Blicke durch Türrahmen, durch die Positionierung Schmiedeckers im Bild eine angemessene Balance von Nähe und Distance zu schaffen. Er bittet Schmiedecker seine Ansprüche in dieser Hinsicht auszuformulieren. Nach kurzem Nachdenken bringt dieser es auf die Formulierung „sich okay zu verhalten“. Er wäre von Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan eingeladen worden, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das habe er nicht ausnutzen wollen. Ihm sei es ein Anliegen gewesen, nach Möglichkeit den Film mit ihr zusammen zu machen. Dabei sei es nicht nur darum gegangen, eine für sie angemessene Distanz auszuloten. Ebenso wichtig war es, überhaupt ein Gespräch mit ihr halten zu können. Der Film sei ein Destillat aus vielen Gesprächen, die stets Versuche waren, diese notwendige Spannung zu erzeugen und zu bewahren.

Scholz schildert seinen Eindruck, die Filmemacher hätten gegenüber der Protagonistin diverse Rollen eingenommen oder diese von ihr zugedacht bekommen: Archivare, Notare, Freunde, Schüler. Er möchte wissen, ob sie die Vielfalt dieser Rollen über den Dreh hinweg aufrechterhalten konnten. Aus Koglers Sicht war es wichtig, diese Bezugssysteme bestehen zu lassen, insofern sie eine produktive Energie zwischen Filmemachern und Protagonistin erzeugte. Die benannten Rollen einzunehmen hätte geholfen, diese Intensität der Beziehung im Dialog mit ihr sichtbar und spürbar zu machen. Als konkretes Beispiel verweist er auf den teils bohrenden Blick der Protagonistin. Schmiedeckers Empfinden nach sei dabei die Rolle des Schülers die Sicherste gewesen. Das freundschaftliche Verhältnis wäre dagegen schwierig, da es dieses wirklich gebe, allerdings in einer Form, die er dauerhaft nicht hätte aufrechterhalten können. Als sie erwähnt habe, wie er sie seit dreißig Jahren besuchen komme, sei das ihrerseits ernst gemeint gewesen, obwohl Schmiedecker sie erst seit zehn Jahren kenne. Es habe aber vor dreißig Jahren einen Schüler gegeben, der sie besuchte. Sie habe immer diese Art von Bekanntschaften und Zirkeln gehabt. Daraus entstehe von ihrer Seite her ein Anspruch an eine Freundschaft, den Schmiedecker nicht erfüllen könne. Es entspräche ja faktisch der Wahrheit, wenn sie vorwurfsvoll ausspricht er werde später fort sein. Sich in das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu begeben, sei dagegen klarer und sicherer gewesen. Kogler fügt hinzu, die Überlegungen über die Rolle, die Schmiedecker der Protagonistin gegenüber einnehmen sollte, hätten auch zu der wichtigen Entscheidung geführt, ihn als einen Teil des Filmteams auftreten zu lassen. Rein inhaltlich seien sie trotz allen Mäanderns in den Fragen von Rollen und Verhältnissen strukturiert vorgegangen. Beispielsweise hätten sie sich klar vorgenommen, bestimmte Themen anzusprechen. Die offenere Form, die der Film letztlich bekommen habe, sei zu einem großen Teil erst im Schnitt entstanden.

Im Hinblick auf die künstlerische Postion der Filmemacher fragt Scholz, ob Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan diese während des Drehs oder zu einem anderen Zeitpunkt als Künstler wahrgenommen habe. Schmiedecker antwortet, er gehe er davon aus, dass sie Menschen eher in die Kategorien Männer und Frauen, nicht in Künstler oder Nicht-Künstler einordne. Als junge Männer hätten sie von vornherein gewonnen, daher seien sie auf die Ebene Künstler oder Nicht-Künstler gar nicht gekommen. Kogler erzählt ergänzend von einem Gespräch über seine Ausbildung an der Filmschule. Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan habe sich erkundigt, was man dort lerne. Er habe geantwortet, dass es da schon einiges zu lernen gebe, beispielsweise wie man ein Bild mache. Darauf habe sie geantwortet, das sei in zwei Stunden abgehandelt, und wissen wollen, was danach käme.

Scholz zeigt sich beeindruckt von der Art, wie Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan von resolutem Auftreten zu großer Herzlichkeit übergeht und mit Leichtigkeit verschiedenste Themen und Ebenen miteinander verbindet. Er fragt, inwiefern dieser Eindruck filmisch forciert oder im Material und den Situationen vorhanden war. Kogler antwortet, dieser Aspekt sei ihm fast zu präsent. Man solle ja nicht schlecht über den eigenen Film reden, aber seiner Wahrnehmung nach nutze der Effekt sich ab, da man die Protagonistin immer wieder als unzuverlässige Erzählerin entlarve. Dies stecke jedoch im Material. Viel Spielraum gebe es nicht, einen anderen Film daraus zu machen. Die Sprache der Protagonistin verlange diese Form.

Scholz betont, die Protagonistin formuliere explizite Hoffnungen an den Film, und möchte wissen, inwieweit die Filmemacher dem nachgegangen oder sich aus Angst, ihr auf den Leim zu gehen, zurückgehalten hätten. Schmiedecker bezeichnet auch dies als offene Frage, die sie während der Arbeit beschäftigt habe. Letztlich sei es aber um Koglers Blick auf Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan gegangen. Auf eine Nachfrage aus dem Publikum, weshalb man ihr nicht den Raum gegeben habe, sich und ihre Imagination stärker vor der Kamera zu inszenieren, macht Kogler deutlich, er habe, obwohl die Möglichkeit natürlich bestanden habe, nicht in diese Richtung gehen wollen. Er erwähnt eine im Film vorkommende ältere Aufnahme, in der Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan in einem Kleidungsstück mit auffälligem Kragen ein Gedicht aufsagt. Für ihn habe dort die Grenze gelegen. Es entspräche nicht seinem Geschmack, im Film damit zu spielen, dass Leute vieles für die Kamera machen. Schmiedecker ergänzt, neben den Aspekten des Zeitgeschichtlichen und des Porträts hätte auch sehr deutlich die Situation in der Wohnung im Zentrum gestanden, in der man seitens der Protagonistin von verschiedensten Dingen und Situationen überrascht werden konnte: einlullenden Gesprächen, Abwesenheit, aufblitzendem Scharfsinn. Diese Erfahrung zu vermitteln, sei ihnen wichtig gewesen und hätte auch zu der Entscheidung geführt, sich nicht an biographischen Daten und Details aufzuhalten.

Passend dazu erscheint die Frage aus dem Publikum, ob es angesichts des Umstandes, es bei der Protagonistin mit einer unbekannten Jahrhundertfigur zu tun zu haben, nicht eine große Versuchung gewesen sei, den Film mit biographischen Fakten und Einordnungen anzureichern. Kogler bestätigt, es habe naheliegender Weise Gedanken in diese Richtung gegeben. Unter anderem seien Schrifttafeln ent- aber auch wieder verworfen worden. Es tue ihm weh, wie viel man im Film nicht erfahre. Er hoffe, man bekomme wenigstens ein Gefühl dafür, was da alles vorhanden sei. Schmiedecker unterstreicht, er fände es spannender, sich einer Künstlerin und ihrer Kunst mit einer künstlerischen Position zu nähern. Andererseits würde er diese Hintergrundinformationen ebenfalls vermissen und sei der Meinung, sie sollten in einer Form existieren. Allerdings nicht in diesem Film.

Scholz stellt fest, ihn habe die Darstellung der Wohnung als Palast der Erinnerung gefreut, die durch den Film erlebbar und durch das Bild geordnet werden. Die Aufnahmen im Archiv der Albertina, wo ebenfalls Werke Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans aufbewahrt werden, sei ihm als ein Widerpart zur Wohnung vorgekommen. Schmiedecker bestätigt die Bedeutung der Wohnung Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans, die ein Archiv ihrer künstlerischen Arbeit sei. Es sei ihm ein Anliegen gewesen, im Film die Dinge in dieser Wohnung vorkommen zu lassen. Kogler wollte die Albertina ursprünglich nicht zeigen und den Film ausschließlich in der Wohnung spielen lassen. Dabei entstand beim Testpublikum jedoch ein Zustand der Verwirrung. Man war unsicher, ob den Aussagen der Protagonistin zu trauen sei. Die nachweisliche Existenz ihrer Arbeiten im Archiv der Albertina funktioniere dazu wie eine Stichprobe. Sie gebe Grund zu der Annahme, auch ihre weiteren Aussagen entsprächen der Wahrheit. Kogler sei unsicher, ob diese Maßnahme für den Film wirklich notwendig gewesen wäre.

Direkt im Anschluss an das Albertina Archiv, so Scholz, gebe es eine Montage von Bildern aus der Wohnung, die den Charakter verspätet eingesetzter Establishing Shots trage. Sie erschienen ihm im Kontext der Albertina als zweite Hälfte einer Gegenüberstellung verschiedener Archivarten. Für Schmiedecker war die Gegenüberstellung der beiden Archive wichtig. In der Albertina seien Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans Arbeiten zwar eingelagert, es sei aber gut möglich, dass die Filmemacher seit der Ausstellung vor fünfzehn Jahren als erste um Einblick gebeten haben. Die gesamte Aufmachung des Archives sei relativ lieblos. Zudem wären die Arbeiten dort nicht in ihrer Vielschichtigkeit und Interdisziplinarität erfahrbar. Viele Aspekte ihrer Kunst gingen durch das Fehlen dieser Kontexte verloren. In der Wohnung dagegen gäbe es die Möglichkeit einer ganzheitlicheren Auseinandersetzung. Dort würde zwar niemand alles sehen, aber über die Jahre habe es Besucher und Auseinandersetzungen mit den Arbeiten gegeben. Im Film sei es darum gegangen, diese Wohnung als einen oder den Ort zu zeigen, an dem man sich künstlerisch ernsthaft mit ihr und ihrem Werk befassen könne. Für Kogler funktionieren diese Bilder überdies als Ankündigung des Endes, indem sie die Wohnung als einen Ort zeigen, der von den Filmemachern in dem gezeigten Zustand zurückgelassen werden wird.

Joachim Schätz meldet sich mit einer Nachfrage zu einer Szene zu Wort, die ihn irritiert habe. Darin kommt Lucia zu Besuch, eine Freundin der Protagonistin. Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan öffnet ihr die Tür. Es folgt eine ausgedehnte Begrüßungsszene. Die Filmemacher halten sich derweil klassisch dokumentaristisch im Hintergrund. Schätz nahm das als eine plötzliche Veränderung ihrer für den Film entwickelten Rollen wahr. Kogler stimmt zu, kommt aber zu keiner Idee, wie sie sich geschickter hätten verhalten können. Schätz schlägt vor, ein Mitglied des Filmteams hätte die Tür öffnen können. Kogler stimmt zu. Schmiedecker widerspricht. Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans Gang zur Tür sei wichtig gewesen, um ihre Eigenständigkeit zu zeigen und den Eindruck zu vermeiden, sie wäre womöglich durch die Filmemacher in der Wohnung eingesperrt. Schätz möchte wissen, ob die Ankuft Lucias ein Bild des Trostes gewesen sei. Kogler sagt, die Idee eines Besuchs sei dadurch universeller geworden. Man sehe, es gäbe nicht nur den Besuch des Filmteams, sondern noch einen zweiten, und es habe ja auch in den vorangegangenen vierzig Jahren zahlreiche Besuche gegeben.

Aus dem Publikum kommt die Frage, weshalb der Film den selben Titel trage wie ein erwähnter Gedichtband Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans. Im Film weist die Autorin selbst auf den unbescheidenen Gestus hin, den der Titel „Das Buch Sabeth“ in seiner sprachlichen Nähe zu Titeln biblischer Texte darstelle, beispielsweise „Das Buch Hiob“. Kogler äußert die Hoffnung, die Wahl des Titels in Kombination mit dieser erklärenden Szene habe den Effekt einer sich selbst entkräftenden Überhöhung.

Abschließend fragt Scholz nach dem Nachlass Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans. Schmiedecker antwortet, es habe Leute gegeben, die sich wissenschaftlich mit dem Werk befasst haben, aktuell sei das aber nicht der Fall. Das wäre auch ein Grund gewesen, den Film zu machen. Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjans Anliegen an ihn, sich um die Verwaltung ihres Nachlasses zu kümmern, sei von ihrer Seite durchaus ernst gemeint. Inwieweit er sich damit befassen könne und werde, sei im Moment nicht klar und nicht teil des Filmprojekts. In Anspielung auf die Frage des Nachlasses möchte Scholz wissen, ob Elisabeth Netzkowa Mnatsakanjan das Testament geschrieben habe, von dem sie im Film gesprochen habe. In seiner Gegenwart habe sie das nicht getan sagt Schmiedecker. Er vermute aber, es liege in dem verschlossenen Schrank ohne Schlüssel.

 Kerstin Edinger, Alexander Scholz © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Kerstin Edinger, Alexander Scholz © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald