Film

Homo Sapiens
von Nikolaus Geyrhalter
AT 2016 | 94 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 40
10.11.2016

Diskussion
Podium: Nikolaus Geyrhalter, Michael Palm (Schnitt)
Moderation: Till Brockmann
Protokoll: Kerstin Börß

Synopse

Seine Räume, seine Symbole, seine Spuren sind noch da, aber der Mensch ist aus den verfallenen Resten seines Zivilisationsnachweises verschwunden. Kletterpflanzen überwuchern ein Spaßbad, Jalousien klappern an den zerborstenen Fenstern eines Krankenhauszimmers, verlassene Bunker trotzen nur noch dem Wind und der Brandung. 

Protokoll

Verlassene Theatersäle, Schiffswracks inmitten blühender Felder, Kirchenruinen, – Räume des Menschen, ohne den Menschen. „Böse könnte man also sagen, eine Ansammlung von Postkarten“, sagt Till Brockmann, Moderator der Diskussion, „von der du dich aber kinematographisch entfernt hast.“ Das hänge von der Bereitschaft des Publikums ab“, entgegnet Nikolaus Geyrhalter. Inwiefern diese sich darauf einlassen. „Man kann in dem Film auch neunzig Minuten ein Postkartenbuch sehen.“ 100 Leute im Diskussionsraum hätten mit Sicherheit auch 100 verschiedene Filme gesehen, sagt Geyrhalter in Anschluss an die Projektion seines Films Homo Sapiens.

Location – als erster Schritt

Brockmann interessiert sich zunächst für die Suche der Drehorte. Das sei ein langer Weg gewesen, berichtet Nikolaus Geyrhalter. „Zuerst haben wir uns gefragt, was brauchen wir für die Geschichten, die wir erzählen wollen.“ Dann habe man erst einmal die Google- Bildersuche nach Urbex (Urban Exploration) befragt, um eine Idee zu bekommen. Was für Gebäude sind schon vor die Linse von Fotografen gekommen? Auch wenn man dann noch nicht wusste, wo die Gebäude genau stehen oder ob es sie noch gibt. Simon Graf, der Locationscout des Films, habe sich dann in die Urbex-Community eingearbeitet, mit Fotografen gesprochen. „Die sagen ihre Orte eigentlich nicht weiter. Aber wir waren ja keine Konkurrenz, da keine Fotografen.“ Zudem hätten auch noch viele Bekannte gewusst, dass dieser Film in Planung sei. „Wir wurden teilweise mit Tipps überschwemmt. Dann mussten wir uns im weiteren Verlauf fragen, ob es lohnt hinzufliegen. Welche Bilder kriegen wir da?“ Insgesamt habe der Dreh inklusive der Recherchephase vier bis fünf Jahre gedauert. Vieles sei in Europa gedreht worden, aber auch Orte in den USA, Argentinien und Japan sind in Homo Sapiens zu entdecken – mal leichter, aber öfter schwierig zugänglich für die Dreh-Crew.

Michael Palm, der den Film geschnitten hat, berichtet, dass am Anfang ein Muster an Ideen stand. „Wir wussten schnell die essentielle Dramaturgie, welche Kontinuitäten und Brüche es geben soll.“ Eine Struktur, geprägt von Jahreszeiten, Geometrien und Thematiken. „Aber wichtig war es uns, trotzdem offen zu bleiben. Wir wollten keine Enzyklopädie, sondern undurchschaubar bleiben“, sagt Palm. Der Schlachthof im Film fange zum Beispiel in Italien an und höre in Skandinavien auf, dazwischen sei noch ein Bild aus Polen, skizziert Geyrhalter. Eine Kontinuität über räumliche Funktion. Ein Schlachthof, Einkaufszentren, ein Bahnhof, insgesamt sehe man wenig private Räume, merkt Brockmann an. Es gehe mehr um Arbeit, Vergnügen oder soziale Räume. „Ich wollte stärker vom System Mensch erzählen und daher die Privaträume reduzieren – sozusagen vom Geburtshaus zum Krematorium“, erklärt der Regisseur.

Der Film beginnt mit Bildern von ikonenartigen Mosaiken in einer Ufo-ähnlichen Halle in Bulgarien. Von der Decke, in deren Mitte das Hammer-und-Sichel-Emblem noch gut erkennbar ist, tropft konstant Tauwasser auf die Mosaike. Diese Bilder hätten zunächst am Ende des Films gestanden, blickt Palm auf den Schnittprozess zurück. „Die haben ja schon Pathos. Am Ende waren sie dann zu kitschig. Mit der Anfangsentscheidung haben wir das gelöst, aber das Ende blieb verbunden mit der Halle“, sagt Palm. Daraufhin habe man mit der anfänglichen Regel, jede Location einmal abzubilden, gebrochen und die Halle, am Ende umgeben von Schnee statt Tau, noch einmal gezeigt. Ob das nun ein Nachteil oder Vorteil sei, dass der Film somit formal geschlossen daherkommt, lässt Palm offen, er habe nicht unbedingt einen Kreis gewollt. Und vielleicht sei die eingenebelte Halle am Ende, auf die kein Bild mehr folgen könne, auch nicht minder pathetisch.

Laubbläser – als Belebung

In einer anderen Einstellung des Films verfolgen sich Staubflocken wie spielende graue Mäuse und heben bei ihrem Tanz immer wieder in die Luft ab. Plastikfetzen wehen aus mit Sträuchern verwebten Müllfelsen. Papier fliegt durch ein verlassenes Einkaufszentrum. Immer wieder choreographiert der Wind Bewegungen in Homo Sapiens. Brockmann fragt sich, wie viel Energie dahinter steckte, diese Szenen zu beleben. Ob eingegriffen wurde. Ein bestimmtes „Ja!“ kommt von Geyrhalter. „Hauptsächlich haben wir Wind gemacht. Im Kopf hat man diese Vorstellung: Ich öffne die Tür und dann kommt ein Windstoß. Das ging natürlich nicht, da wir die Tür ja schon geöffnet hatten. Also half ein Laubbläser.“ Auch beim Ton habe man nachgearbeitet. „Der Ton war nie sauber“, sagt Geyrhalter. Wozu sicherlich auch der Laubbläser seinen Teil beitrug, wirft Brockmann ein. „Also haben wir einen Großteil des Films stumm gedreht. Doch alles, was man im Bild sieht und Geräusch machen kann, wollten wir hören“, erläutert Geyrhalter. Die Aufgabe für den Sounddesigner sei gewesen, trotzdem authentisch zu bleiben. „Es brauchte dann auch japanische Vogelstimmen.“ In Hinblick auf diese Eingriffe würde Geyrhalter Homo Sapiens nie rein als Dokumentarfilm bezeichnen. „Eher wie ein Gemälde, bei dem man Schicht auf Schicht setzt, bis es perfekt ist.“

„Und nun, was soll es, wozu das Ganze?“, eröffnet Brockmann die Diskussion der Deutungsebene, „ich habe das Gefühl, dass man sich in letzter Zeit etwas damit abgefunden hat, dass man sich in einer Situation nach Susan Sontags ,Imagination of Desaster‘ befindet. Die Erderwärmung ist da, so ist es. Kein Zeigefinger.“ Für Geyrhalter ist sein Film „zum einen ein Zukunftsszenario, da es keine Menschen mehr gibt. Also eine Dystopie. Aber es ist auch Präsens, denn die Gebäude existieren ja so“. Zunächst sei die postapokalyptische Vorstellung der Schuhlöffel gewesen, um Bildideen zu finden, sagt Palm. „Im Schnitt ging es dann weg von dem Charme hin zu einem Konkretismus.“ Das in Zeitlichkeit Wahrnehmbare arbeite gegen die Vorzeitigkeit des Films. Aus dem Publikum kommt Lob der posthumanen Bildlichkeit: „Für mich sah es aus wie ein Science-Fiction-Film, mal lange, mal eine Stunde nach den Menschen. Beeindruckend, dass Dokumentarfilm das kann.“ Ein weiterer Redner möchte doch noch einmal Genaueres zur Intention wissen. Sei es denn nun ein moralistischer Film? Eine Anklage? „Wenn sie sich dahin geführt führen, ja gerne“, antwortet Geyrhalter.

Ein Diskussionsgast erinnert sich an Geyrhalters Film Unser Täglich Brot, der trotz des Themas, der europaweiten Schlacht um Lebensmittel, gleichzeitig wunderschön sei. „Auch in Homo Sapiens ist Zerstörung zu sehen, aber alles sieht wunderschön aus. Ist das widersprüchlich?“

„So widersprüchlich wie unsere Existenz auf der Welt“ ist Geyrhalters Antwort.

Leiter – als Enthumanisierung

Eine Kritik aus dem Publikum zielt auf die posthumane Perspektive der Kamera. „Ihr habt den letzten Blick. Das bringt eine Ästhetik des Erhabenen mit sich.“ Geyrhalter erklärt, man sei bewusst auf die Leiter gestiegen und habe 70 bis 80 Prozent über Augenlevel gedreht, um genau diesen Blick zu vermeiden. „Es darf kein menschlicher Blick sein, eher ein Engel, ein Roboter oder so etwas. Also haben wir zum Beispiel nicht geschwenkt. Wir wollten nicht die Diskussion haben, ob am Ende noch wer herumschaut.“ Palm ergänzt eine hypothetische Überlegung ganz anderer Perspektive: „Eigentlich sind es doch die Räume, die uns anschauen.“ Zum Ende möchte noch jemand wissen, ob es denn nun gut sei, dass die menschliche Existenz weg ist? „Ich lebe gerne“, erwidert Geyrhalter, „aber der Film ist auch beruhigend. Er zeigt, so schlimm ist es nicht, die Natur regelt das schon.“