Film

Brüder der Nacht
von Patric Chiha
AT 2016 | 88 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 40
08.11.2016

Diskussion
Podium: Patric Chiha
Moderation: Katrin Mundt
Protokoll: Iris Fraueneder

Synopse

Künstliches bläulich-rosa Licht fällt auf junge, mit Matrosenshirt und glänzenden Gürtelschnallen verzierte Männer. Not und Sehnsucht hat die bulgarischen Roma nach Wien gebracht, wo sie sich prostituieren und dem fragilen Rollenspiel des Nachtlebens hingeben. Sie arrangieren sich in einem zärtlichen, eitlen, manchmal aggressiven Zusammenhalt. 

Protokoll

Im Zentrum des Films stehen bulgarische Arbeitsmigranten am Wiener Strich. Dabei ist es dezidiert kein Film über die jungen Männer, vielmehr ein Film mit ihnen. Keine gezielt angelegte Milieustudie, sondern entstanden aus einem experimentellen Setting, das von einem zärtlichen Blick auf die Protagonisten geprägt ist, über deren Lebensumstände gemeinhin wenig bekannt ist. Kein Film, mit dem Regisseur Chiha etwas Bestimmtes zu sagen hätte. Abgründe werden bewusst nicht ausgestellt, sickern an den Rändern durch.

1 Jahr des Miteinanders

Am Beginn des Projekts stand Chihas Besuch in der Bar. Faszination, zugleich Angst. Die erste Kontaktaufnahme ging von den Burschen aus, mit der Frage, was er wolle. Er: Einen Film mit euch machen. Es folgte ein gemeinsames Jahr mit Billard, Haschisch und vielen Gesprächen.

4 Wochen Drehzeit

Gedreht wurde dann binnen vier Wochen. Chiha beschreibt seine Regieführung als sehr passiv. Seine zentrale Vorgehensweise war es, künstliche Räume zu schaffen, in denen Verschiedenes passieren kann: Im Sinne eines Filmstudios, mit Licht, Nebel, einer Bühne, Kostümen. Dann die Burschen einzuladen, vorbeizukommen, um zu trinken, zu essen, zu reden, sich zu verkleiden und Kino zu spielen, d. h. irgendwann vor die Kamera zu treten – oder auch nicht. Der Spot, den die Kamera im Visier hatte, war beleuchtet, z. B. die Bar. Wer wollte, kam ins Bild. Die Räumlichkeiten dazu waren jeweils kurzzeitig angemietet. Für ihr Erscheinen am Drehort bekamen die Burschen Bezahlung. Gleicher Stundenlohn für alle (ohne Verhandlungen!) und wichtig: für’s Anwesend-sein, unabhängig davon, ob sie vor die Kamera traten.

Kein Konzept, sondern à la Lynch in die Idee verliebt

Katrin Mundt spricht das Verhältnis zwischen Chiha und seinen Protagonisten an. Wie war das definiert, in einem Milieu, wo es immer darum geht, den eigenen Wert auszuhandeln und Rangordnungen festgeschrieben scheinen? Was heißt dieses Miteinander statt Über-sie?

Im Wesentlichen, so Chiha, nichts vorzuschreiben, wobei auch die Räume eine tragende Rolle spielen, indem auch sie alles zulassen – Lügen, Übertreibungen. Interessant dabei auch, wirft Mundt ein, wie in den Lügen und Übertreibungen Träume sichtbar werden.

Es ging Chiha mehr darum, wie die Burschen sprechen, nicht um eine artikulierte Wahrheit. Auch das Spiel mit der Wirklichkeit erzählt über eine Wahrheit oder Wirklichkeit. Zu Beginn wurde noch mit Übersetzung gedreht, was sie dann aber schnell wieder gelassen hatten. Chiha und sein Filmteam wurden damit in der Drehsituation zu Zuschauer_innen eines Theaterstücks, das sie nicht verstanden. An den Dialogen war nichts im Vorhinein abgesprochen.

Moralischer Aspekt und die Natur des Geschenks

Großen Wert legte Chiha auf seine Bemühungen, das, was die Burschen ihm schenkten, nicht zu zerstören. Sie zu schützen. Kein Gefühl von Nacktheit und Ausgestelltsein aufkommen zu lassen, wozu auch die Künstlichkeit diente.

Joachim Schätz fragt nach vorauseilenden Mustern, in die die Protagonisten mit der Setzung des 70er, 80er-Settings fallen konnten, die das Kino als exotischen Raum zeichnen. Ob es überhaupt möglich sei, dass der Film nur der seiner Protagonisten sein kann. Chiha betont, ihm sei klar, dass es trotz allem sein eigener Film bleiben müsse. Wichtig war ihm, einerseits die Künstlichkeit zuzugeben und andererseits die Option des Nein-Sagens für die Burschen zu wahren.

Und die Kunden?

Nur an einer Stelle werden auch zwei Kunden gefilmt, die mit den Burschen am Tisch sitzen, reden. Zwar hätten viele Freier gern mitgemacht, doch Chiha hatte kein Interesse daran, von ihnen die Welt der Protagonisten erklärt zu bekommen. Außerdem hätten sich die Burschen einen Film ohne Schwule gewünscht.

Repetition und Langeweile

Jemand aus dem Auditorium fragt, ob Chiha eine Gefahr darin sähe, dass viele Szenen immer wieder gleich anlaufen. Dieser bejaht, aber betont, dass Langeweile ein bewusstes Strukturmoment war, zumal sich gerade darin unheimlich viel auftut. Die runde Struktur sei aus seiner Beschäftigung mit Roma-Literatur hervorgegangen, in der sich alles immerfort dreht, ohne wirkliches Zentrum. Also nicht die hierzulande typische Linie, gefolgt von einem Punkt. Ein musikalisches Moment im Grunde, das der Diskutant in der Repetition sieht.

2 Szenen

wurden in der Diskussion extra beleuchtet:

Die letzte Szene, für die Chiha, wie er einwirft, den Film genau genommen gemacht hatte. Gedreht in der „Wiener Freiheit“, einer Disco mit wöchentlich stattfindenden bulgarischen Abenden. Interessant für ihn, weil darin deutlich wird, wie Kino Dinge erfahrbar macht, ohne sie benennen zu müssen. Wie die Körper im gemeinsamen Tanzen so vieles ausdrücken: Brutalität, Liebe, Zärtlichkeit, Einsamkeit und Zusammengehörigkeit, Nähe. Die Wohnungsszene, die mit dem traurigsten Drehort des Films auf die Wohnungsmafia der Bulgaren verweist, die weniger hübsch und weniger jung sind und eine Reihe von Wiener Wohnungen verwalten, in denen die Burschen, je nachdem, wo sie gerade sind, zu zehnt für 5 € die Nacht schlafen können.

Kinosichtungen

Nachdem der Film in Wien seit September im Kino läuft, kommen die Burschen immer wieder zu den Vorführungen, reagieren mit Belustigung bis zu gelegentlicher Scham.

Jemand fragt, ob denn die Frauen in Bulgarien den Film gesehen hätten. Nur zwei, doch es gilt: Niemand weiß es – alle wissen es.

Frage nach der Form

Was für ein Film ist das nun, fragt Alejandro Bachmann, ein Dokumentarfilm oder nicht vielmehr ein Spielfilm mit Laiendarstellern? Für Chiha: Eine Reise vom Dokumentar- zum Spiel- zum Dokumentarfilm.

 Iris Fraueneder, Hajo Wildeboer v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Iris Fraueneder, Hajo Wildeboer v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald