Film

Striche ziehen.
von Gerd Kroske
DE 2014 | 96 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 38
06.11.2014

Diskussion
Podium: Gerd Kroske
Moderation: Joachim Schätz
Protokoll: Lisa Rölleke

Synopse

Weimar der 1980er Jahre, Punkszene. Ein weißer Strich auf der Berliner Mauer, West. Einmal ringsum. Eine Verhaftung. Ausreise. Verrat? Auf der anderen Seite Distanzierung und Kopfschütteln. Fragen. Sie ziehen sich bis ins Jetzt. Heute. Kein Strich unter der Geschichte. 

Protokoll

Eine Gruppe von jungen Erwachsenen aus der Punkszene markiert 1986 die Mauer auf der West-Berliner Seite mit einem horizontal verlaufenden weißen Strich. Noch im Unklaren über die Konsequenzen, möchten sie damit der Regierung „einen Strich durch die Rechnung machen“. Der Film beginnt mit den Erzählungen verschiedener Mitglieder dieser Jugendbewegung, die sich an eine aufregende Zeit erinnern. Der Ursprung des Freundeskreises liegt in Weimar. Mit Slogans wie „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ werden hier noch im Osten Wände besprüht, bevor nach und nach fast alle gleichzeitig einen Ausreiseantrag nach West-Berlin stellen. Allmählich wird im Film aber auch der folgenschwere Ausgang der Aktionen deutlich: Verhaftungen, U-Haft in Erfurt und Vorwürfe von Verrat. Jürgen, dessen Bruder Thomas auch dem Freundeskreis angehörte, hatte vor seiner Ausreise aus der DDR 1984 als Inoffizieller Mitarbeiter Informationen über seine Freunde an die Stasi weitergegeben, was auch zu Verhaftungen bei der Weimarer Sprayeraktion geführt haben soll. Daraufhin folge der Bruch zwischen den Brüdern und dem Rest der Gruppe. Bis heute hat keine Versöhnung stattgefunden.

In der Diskussion spricht Joachim Schätz die dezentrale Umsetzung der Strich-Aktion an. Im Gegensatz zum Konflikt zwischen Jürgen und dem Rest der Gruppe, dessen Verlauf noch offen bleibt, ist die Kunstaktion bereits abgeschlossen. Wie der Regisseur auf die Idee für den Film gekommen sei, möchte der Moderator außerdem wissen. Kroske erzählt, dass er durch Frank Willmann, der 2010 eine Ausstellung zum weißen Strich plante, an den Stoff gekommen sei. Die Spontanität der Aktion, die ihn an die Kunst von Jackson Pollock erinnere, hätten ihn inspiriert. Daraufhin habe er eigene Recherchen angestellt und sei dabei auch auf die Problematik der Brüder gestoßen. Noch mehr als im Film gezeigt, habe sich diese immer weiter hochgeschaukelt.

Die Kontaktaufnahme mit Jürgen habe sich deshalb zunächst schwierig gestaltet, gibt Kroske zu. Er lebe zurückgezogen in einem Haus im Wald und sei dem Filmprojekt anfangs sehr skeptisch gegenüber getreten. Schließlich habe er aber auch eine Chance zur Kontaktaufnahme mit seinem Bruder gewittert. Lediglich Jürgens Frau habe die Zusammenarbeit gefährdet, weswegen später nur im Haus gedreht wurde, wenn sie nicht anwesend war, erzählt der Filmemacher. Schätz spricht daraufhin zwei Verhaltensmuster an, die bei Jürgen deutlich werden. Einerseits steht eine Verhandlung des Konflikts zwischen ihm und seinem Bruder bzw. den Freunden aus, weil er sich einem klärenden Gesprächen verweigert, andererseits gibt es schon eine Bereitwilligkeit sich zu zeigen, oder sogar als traurige Figur zu inszenieren. Kroske antwortet hierauf, dass Jürgen sehr schnell begonnen habe, über die Zeit in Weimar zu sprechen. Trotzdem hätte der Regisseur aber immer wieder etwas aus ihm herauskitzeln müssen. Am Anfang habe Jürgen wohl noch versucht, die Dreharbeiten zu kontrollieren, später aber habe er sich, trotz der „Belagerung des Teams“, immer mehr geöffnet.

Schätz möchte wissen, welche Rolle Kroske zu spielen bereit war und ob er sich nicht manchmal wie ein Mediator gefühlt habe, der zwischen den beiden Parteien vermitteln musste. Die Situation habe er anfangs unterschätzt, erzählt Kroske. Als es um das Treffen der Brüder ging, dauerte es lange, bis man einen Kompromiss gefunden hatte. Seine Erwartung an den Film sei nicht so sehr das Hervorheben der Wahrheit gewesen, sondern überhaupt ein Gespräch herbeizuführen. Über seine Rolle habe er sich im Vorfeld nicht viele Gedanken gemacht. Letztendlich habe er diese aber schon als anstrengend empfunden. Die verschiedenen Erwartungshaltungen der Protagonisten seien bei ersten Projektion zu spüren gewesen: Auch Jürgen war eingeladen, wollte aber im letzten Moment doch lieber alleine den Film sehen. Er fühle sich als „Verräterschwein“. In der Tat habe der Rest der Gruppe bei der Vorführung des Films sehr eruptiv reagiert. Die Geschehnisse seien jedoch nicht rückgängig zu machen, sagt Kroske, es ginge ihm eher darum zu zeigen, wie man heute mit der Situation umgehen kann. Seit die Stasi-Akten einsehbar sind, gebe es keinen öffentlichen Diskurs ohne Schuldzuweisungen und eine sofortige Stigmatisierung. In den letzten 25 Jahren habe sich hier nichts geändert. Seinen Film sieht er also als Chance begleitend zu beobachten und einen Umgang mit einem Teil der Vergangenheit zu ermöglichen.

Vom Publikum wird die Kameraarbeit in einer der letzten Szenen des Films gelobt, nämlich wenn Jürgen und Thomas sich tatsächlich das erste Mal seit drei Jahren in Berlin treffen. Hier sei es Kroske gelungen, weit über das Sprachliche hinauszugehen. Die Aussichtslosigkeit der Situation und das aneinander Vorbeireden würden filmisch gut umgesetzt. Tatsächlich war diese Sequenz auch dem Regisseur wie ein Film im Film vorgekommen. Die Situation habe ihm aufgrund der zufällig einsetzenden Kirchenglocke an die berühmte Szene aus High Noon erinnert.

Till Brockmann fragt sich in Anlehnung an den Filmtitel, warum filmisch gesehen in bestimmten Situationen auch immer ein Strich gezogen wurde. Hier bezieht er sich auf die Stellen im Film, in denen Jürgen, sei es vom Regisseur oder seinem Bruder Thomas, mit seiner Rolle als Verräter konfrontiert wird. Jedes Mal, wenn Jürgen dann fragt „Was soll ich denn noch machen?“, gebe es einen Schnitt und deshalb würde nie gesagt, was man eigentlich von ihm verlangt. Kroske findet, dass man einem Erwachsenen die Beantwortung dieser Frage zutrauen kann, ohne ihn zu überfordern.

Verwirrung kommt im Publikum durch die allerletzte Szene im Film auf, die die Mauer zwischen israelischem und palästinensischem Gebiet in Bethlehem zeigt, auf der ein hellblauer Strich gezogen wurde. Kroske wollte damit den Film, der sich hauptsächlich Mitte der 80er Jahre bewegt, im Heute verordnen. Mit dem deutschen Mauerfall vor 25 Jahren sei das Thema einer zwei Gebiete voneinander trennenden Mauer leider nicht vorbei. Durch die Publikation „Facing the Wall: The Palestinian-Israeli Barriers“ von Avinoam Shalem und Gerhard Wolf sei der Regisseur auf diese Idee gekommen. Außerdem gebe der Strich der 12 Meter hohen Mauer, an vielen Stellen bunt bemalt, wieder eine architektonische Gestalt.

Laut einer Stimme im Publikum nimmt die Verratsgeschichte im Film einen großen Stellenwert ein. Ist es nicht das Bekenntnis des Grenzpolizisten, das auch von Jürgen erwartet würde? Kroske sieht bezüglich des Umgangs mit der Vergangenheit zwei Möglichkeiten, die sich einerseits durch Jürgen und andererseits den Grenzpolizisten widerspiegeln: Man könne so wie Jürgen seine Taten herunterspielen und sein Handeln mit einer schizophrenen Psychose rechtfertigen oder wie der Grenzpolizist sein Handeln zugeben und, in seinem sehr seltenen Fall, sogar darauf stolz sein. Weniger eine Geschichte von Verrat, sondern das Motiv der Versöhnung, bzw. die Unfähigkeit sich zu versöhnen, sieht ein anderer Diskutant durch den Film widergespiegelt.

Kritisiert wird von einer Diskutantin, dass der für sie zweite Hauptprotagonist neben Jürgen, die Mauer (aber auch das Bild der DDR) weitestgehend über Klischees repräsentiert wird. Obwohl die Geschichte mit der Jugendgruppe in Weimar beginnt und die Mauer ja „nur in Berlin real erfahrbar“ sei, stehe sie den gesamten Film über im Mittelpunkt und werde als Symbol gebraucht. Kroske fragt nach dem Jahrgang der Diskutantin und glaubt, dass ein Nachvollziehen der Situation schwierig wird, wenn eine Grunderfahrung mit der Mauer nie da gewesen ist. Auch wenn die Jugendlichen in Weimar, also der DDR, groß geworden sind, hätten sie ja später die Mauer auch auf der West-Berliner Seite erfahren. Gerade dieses Anstoßen von beiden Seiten der Mauer sei ja das Wichtige gewesen. Werner Ružička merkt außerdem an, dass die Mauer nun mal ein Stück der Popkultur war und nach wie vor ist. Kroske betont daraufhin, dass er den Film nicht als Mauergeschichte gesehen habe, sondern eine aktuelle Fragestellung verfolgen wollte. Nach wie vor sei die Thematik der Mauer an sich nicht erledigt und bis heute gebe es Zustände, die ratlos machen. Die Übersetzung der vergangenen als auch der heutigen Zustände in die eigene Wirklichkeit seien interessant.

Gerade hier setzt das Bild des Fisches im Eimer an, welches als ein Rahmen fungiert, da es zu Beginn und Ende des Films auftaucht: Es symbolisiert sowohl ein räumliches Gefangen-sein, aber (besonders im Hinblick auf Jürgen) auch das Gefangen-sein in den eigenen Denkmustern und damit auch, wie ein Diskutant formuliert, die „Notwendigkeit, aus dem eigenen Komfort auszutreten“.