Film

Städtebewohner
von Thomas Heise, Christiane Schmidt
DE 2014 | 87 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 38
07.11.2014

Diskussion
Podium: Thomas Heise
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Alexander Scholz

Synopse

Mexiko-Stadt. In sich verschlungene Schnellstraßen, am Rande liegt San Fernando. Hier Totschläger, Entführer, einst Jugendliche. Dort ein Gefängnis im schwarz-weißen Dunkel. Nähe, Offenheit. Ein Picknick im Hof. Geschichten von der Familie und vom Töten. Kein Urteil. 

Protokoll

Thomas Heises Film formuliert aus der Mitte des Verschwindens. Er nähert sich dem Verschwinden erst an und macht dann den Ort sichtbar, in den verschwunden wird. Dieser Ort ist dunkel, er wird in Graustufen konstruiert. Zu Beginn von Städtebewohner verliest eine Frauenstimme ein Gedicht von Bertold Brecht, in dem es darum geht, dass beim Verschwinden einer Person, selbst das sehnsüchtige Warten im Regen langsam vergeht. Ist es Hoffnungslosigkeit oder deren Akzeptanz, die sich hier breit macht? Ist das Gefängnis, dieser Ort des systematischen Ausschließens im Einschließen, ein Locus amoenus, der eine Pause von Gewalt und Kriminalität bereithält, oder ein Locus terribilis, der lediglich auf die nächste schreckliche Tat vorbereitet? Sicher scheint zunächst lediglich, dass es einen Weg durch viele Türen braucht, um an ihn zu gelangen oder ihn zu verlassen.

Heise hatte hinter jenen Türen, im Gefängnis San Fernando, ein Theaterstück mit Bezügen zur Gebrauchslyrik Brechts eingeübt, in dem sich die Grenze des Textes und des Selbst der Insassen auflösen sollte. Zwar habe das Stück mit dem Film direkt nichts zu tun, es sei allerdings der Grund gewesen, warum er überhaupt in San Fernando war und die Möglichkeit hatte, dort Städtebewohner zu realisieren. Der Regisseur hatte in dem Jugendgefängnis eigene Räumlichkeiten bewohnt und stets ohne Beaufsichtigung mit den Insassen drehen und arbeiten können. Diese großzügigen Drehbedingungen seien unter anderem Ergebnis des guten Verhältnisses zum Gefängnisdirektor gewesen, berichtet Heise. Inzwischen, nachdem in Mexiko ein Regierungswechsel stattgefunden habe, sei es unmöglich, dort unter vergleichbaren Bedingungen in einem Gefängnis zu drehen. Außerdem seien die Haftbedingen nunmehr viel härter als zur Zeit des Drehs. An vertraute Szenen wie sie Städtebewohner zeigt, in denen Familien ihre Söhne besuchen und man gemeinsam im Gefängnishof picknickt, ist nicht mehr zu denken.

Die Situation, wie Heise sie in San Fernando vorfand, ermöglicht ihm allerdings das Einfangen genau jener Szenen mit all ihrer Ambivalenz: Da ist zum Beispiel Samuel, der angibt, die tödliche Tat, für die er sitzt, nicht begangen zu haben – „es ist kompliziert“ sagt er. Man will Samuel glauben. Gerade nachdem man ihn gleichzeitig hoffnungsvoll und verzweifelt mit seiner Freundin über deren Berufswünschen parlieren sieht, die für ihn als Analphabeten unfassbar weit entfernt scheinen. Eine andere Szene zeigt einen offensichtlich verängstigten jungen Mann zusammen mit seinem Vater auf einer Decke im Gras. Während der Insasse mit seinem Schicksal hadert und von seiner höllischen Angst vor der Welt außerhalb der Gefängnismauern spricht, unterweist ihn sein zerstreuter Vater in der Kunst der möglichst effektiven Exekution von Widersachern.

Die Kontraste, die Heise in San Fernando vorfindet, bringen einen Film abseits gattungstheoretischer Zuordnungen hervor, der sich den Gegensätzlichkeiten, die er zeigt, sehr bewusst ist und von ihnen zehrt. Der Regisseur gibt Auskunft darüber, dass ihn nicht primär das Subgenre Gefängnisfilm mit seinen didaktischen Implikationen interessiert habe. Vielmehr sei es ihm darum gegangen, die Lebenswelt in den Mauern ruhig in den Wahrnehmungsbereich der Zuschauer zu rücken. Der Beginn des Films mit der Fahrt zum Gefängnis und die Wahl der ersten Szene vor Ort seien für diesen Ansatz exemplarisch. Heise zeigt hier eine „Choreografie des Abschieds“, wie Werner Ružička es nennt. Wir sehen die Freilassung eines Inhaftierten und Wärter, die ihm viel Erfolg in der Welt da draußen wünschen. Statt die Freilassung genretypisch an das Ende des Films zu setzen, beginnt Heise mit dieser starken Szene. Denn es sei ihm gerade nicht darum gegangen, zu fragen wie es nach dem Knast weitergeht, sagt Heise. Viel eindrucksvoller sei es, den Frust und den Trost der Dagebliebenen zu zeigen. Aus dem Publikum gibt es für diese Entscheidung viel Zustimmung: Die Szene, in der einer der Insassen einem anderen zärtlich Trost spendet, bewegt.

Andererseits regt sich aber auch Unbehagen gegenüber der Inszenierung in Städtebewohner. Mehrere Stimmen finden, den Film würde eine Akzeptanz des Ist-Zustandes durchziehen. Durch eine distanziertere Kamera wäre es vielleicht möglich gewesen, weniger den Eindruck einer Sozialromantik oder Alternativlosigkeit der Lage der Protagonisten zu erzeugen. Eine Zuschauerin spricht sogar davon, Städtebewohner betreibe filmische Deeskalation einer offensichtlich heiklen Situation. Heise zeigt sich für diesen Einwand zugänglich, sieht allerdings die Gedichtzitate als Gegenwicht zum möglicherweise präsenten Sozialkitsch. Gerade durch die Situierung der Handlung um Weihnachten sei er sehr vorsichtig gewesen, um Allgemeinplätze zu vermeiden. Er wendet außerdem ein, es falle ihm schwer, über etwas zu erzählen, was er nicht in einer Form akzeptiert habe. Aus dieser Position heraus könne er sich vorbehaltloser seiner dokumentarischen Arbeit widmen und sich zusammen mit Kameramann Robert Nickolaus den Situationen vor Ort hingeben. Mit letzterem, der eigentlich als Kameraassistent arbeitet, hatte Heise schon bei seinem Film Sonnensystem zusammengearbeitet. Der Regisseur erzählt, dass sich Nickolaus an den Ansatz des vorbehaltlosen Beobachten erst ein wenig habe gewöhnen müssen und zunächst noch empathischer mit den Protagonisten gewesen sei als er selbst. Er vermutet allerdings, dass es Nickolaus vielleicht sogar geholfen habe, kein Spanisch zu sprechen. So habe er das Gesten- und Minenspiel der jungen Gefängnisinsassen besser studieren müssen und habe es sodann authentisch einfangen können.

Zu sehen, wie Mütter die Haare ihrer Kinder streicheln und sich die Gefangenen gegenseitig umsichtig frisieren, vermittelt eine gewisse Intimität. Die Wirkung der so eingefangenen Eindrücke wird im Publikum diskutiert. Eine Zuschauerin empfindet solche Szenen als Ausweis einer suggestiven Hermetik. Szenen, die aus dieser Geschlossenheit herausfallen, würden die orchestrale Musik im Film wieder eingefangen. Heise geht auf diese Wortmeldung ein, indem er abermals betont, seine ästhetischen Mittel hätten die Aufgabe gehabt, von der real existierenden Hermetik des Ortes zu abstrahieren. Für die Musik gelte das genauso wie für die Verwendung von Schwarz-Weiß-Bildern und die eingesprochenen Gedichte. Ebenjenen Stilmitteln ist die Offenheit von Städtebewohner geschuldet, die fern jedes urteilenden Gestus operiert. Es bleibt den Zuschauern überlassen, ob sie den Kontrast der bedrückenden Bilder und ihrer artifiziellen Ästhetisierung als schmerzhaften Gegensatz oder als Aussicht auf Hoffnung verstehen wollen.

 © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
© Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald