Film

Sieniawka
von Marcin Malaszczak
DE/PL 2013 | 126 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 37
06.11.2013

Diskussion
Podium: Marcin Malaszczak
Moderation: Cristina Nord
Protokoll: André Grzeszyk

Synopse

Ein Tagebau, ein herumstreunender Kosmonaut. Eine Betreuungsanstalt für psychisch Normabweichende. Erst Essensausgabe im Speisesaal, dann Zigarettenausgabe im Raucherzimmer. Lufttennis im Garten und ein altes Kino aus Vorkriegszeiten. Ein steter Seiltanz zwischen Realem und Fantastischem. 

Protokoll

Sieniawka, eine Ortschaft an der deutsch-polnischen Grenze, ist der Schauplatz von Marcin Malaszczaks Film. Dabei hat das porträtierte „Krankenhaus für die Behandlung von Geistes- und Nervenkrankheiten und Alkoholismus“ selbst eine reiche Geschichte: Während des Zweiten Weltkrieges war es ein Arbeitslager der Nationalsozialisten und wurde nach dem Krieg zunächst in ein Hotel für die Arbeiter im Braunkohletagebau umfunktioniert. In den 60ern des 20. Jahrhunderts wurde es schließlich zu jener Anstalt, die Malaszczak in seinem Film visuell vermisst. Die Bewohner Sieniawkas pflegen nach einer langen Phase der Aneignung heute einen pragmatischen, sachlichen Umgang mit der Geschichtlichkeit des Ortes. Malaszczak wollte dieser Historie zwar seine Referenz erweisen, versuchte sie aber eher auszublenden zugunsten universeller Themen wie kollektiven Ängsten oder einer Reflektion über das Kino selbst – etwa mit einer Szene, in der er Michelangelo Antonionis berühmtes imaginäres Tennisspiel aus Blow Up (1966) herbeizitiert. Und nicht zuletzt sei Sieniawka ein Film über das Unsagbare, Ausgeschlossene der Gesellschaft – jenes menschliche Leid, das interniert und in die Unsichtbarkeit verbannt ist.

Die Drehbedingungen in der Anstalt beschreibt Malaszczak als sehr frei. Seine Verwandten haben jahrzehntelang in der Institution gearbeitet, was ihm einen privilegierten Zugang zu den Stationen gewährte. Ein ganzes Jahr lebte der Regisseur für seinen Film dort und baute in dieser Zeit ein intim zu nennendes Vertrauensverhältnis zu den Insassen auf. Dieses Sich- Kennen war auch Voraussetzung für das dominante Mittel der visuellen Inszenierung des Anstaltslebens: In minutenlangen Plansequenzen vermisst die Kamera das Vegetieren der Insassen, die Schwenks und Fahrten wirken streng komponiert. Basis dieser Arrangements sei die Kenntnis der Routinen gewesen, erklärt Malaszczak. Er habe so viel Zeit an seinem Drehort verbracht, dass ihm manchmal, wenn er abends zum Einkaufen in die Stadt gefahren ist, die „Normalität“ als das eigentlich Unnormale erschienen sei.

Cristina Nord weist auf die verschiedenen Zugänge des Dokumentarfilms zum Themenkomplex Psychiatrie hin und attestiert Sieniawka die Internierung „zart umarmt“ zu haben. Vor allem bezieht sie sich auf eine Szene, in der drei der Insassen gemeinsam auf einer Bank sitzen und fast so etwas wie eine Interaktion zustande kommt: Rechts wird Schifferklavier gespielt, in der Mitte an den Fingernägeln gekaut, links versucht einer der Anstaltsbewohner den Sender eines Radios einzustellen. Malaszczak erzählt, er habe in den vielen tableauartigen Einstellungen versucht, eine gewisse „Flächigkeit“ in der Wahrnehmung herzustellen, um so ein „mentales Bild“ zu erschaffen. Die Kakophonie, das Chaos des Anstaltsalltags solle sich so übertragen, ohne direkt über den Wahnsinn zu sprechen. Im Publikum wurde die Atmosphäre innerhalb der Stationen als friedfertig empfunden und gefragt, ob dies auf bewusste Auslassungen zurückzuführen sei. Dies verneint Malaszczak und kann der Friedfertigkeitsthese nicht wirklich zustimmen.

Werner Ružička lobt vor allem den unbegrenzten Möglichkeitsraum, der sich im Film eröffne. Die gleitenden Bewegungen der Kamera ließen fast alles gleich wahrscheinlich erscheinen, vor allem im Mikrokosmos des Stationslebens. Die strenge, choreographische Komposition der Kamerabewegungen wird erneut löblich hervorgehoben. Die Kamera wisse immer schon im Voraus, wo sie im nächsten Moment hinblicken müsse. Malaszczak erklärte dies wiederum mit seiner detaillierten Kenntnis des Anstaltsalltags, mit der er die Bewegungen der Insassen antizipieren konnte – er hat die Kamera selbst geführt. Zudem habe er teilweise auch während der minutenlangen Plansequenzen noch Regieanweisungen gegeben. Mit diesen dauernden und mobilen Einstellungen habe er Raum-Zeit geschaffen, die im Übrigen dazu führe, dass die Figuren zu Repräsentanten von etwas würden, das gesamtgesellschaftlich zu sehen sei.

Ein letzter Punkt war das Dokumentarfilmverständnis Malaszczak. Ein Besucher erzählte von dem Satz „Das ist doch kein Dokumentarfilm“, den er zu Beginn der Vorführung im Kino aus den hinteren Reihen aufgeschnappt hatte. Tatsächlich mutet die Exposition des Films surreal an – ein Kosmonaut irrt über die Brachlandschaften des polnischen Tagebaus. Malaszczak erklärt, es gehe ihm um die Vermittlung eines bestimmten zeitlichen Erlebens und nicht um die realistische Darstellung des Lebens der Internierten. Cristina Nord ergänzt, dass es dem Film ja um eine Sichtbarmachung des Imaginären gehe, dessen, was in den Köpfen stattfinde. Gespiegelt sieht sie das im Schauplatz Tagebau, wo es ebenfalls darum ginge, etwas Innerliches zu Veräußerlichen.