Film

Material
von Thomas Heise
DE 2009 | 166 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 33
04.11.2009

Diskussion
Podium: Thomas Heise, René Frölke (Schnitt)
Moderation: Peter Ott
Protokoll: Nina Selig

Synopse

Videoaufnahmen von vor und nach der Wende: Zeitbilder und Momentaufnahmen von Probengesprächen, Demonstrationsreden, Menschenaufläufen, Filmvorführungen. Die Bezüge sind lose und fügen sich dennoch. Stets liegt Verschiedenes in der Luft. Kontingenz wie innere Logik der Geschichte werden spürbar.

Protokoll

Man kann sich die Geschichte länglich denken. Sie ist aber ein Haufen.

Im März 2008 beginnt Heise mit seinem „Schnittmeister“ René Frölke diesen Film, von dem er sagt, er sei aus lauter Trümmern entstanden. Panisch haben sie angefangen, das „bisherige Treiben in eins zu bringen“, alles in den Rechner zu ziehen ohne dass klar war, „was hinten rauskommt“. Allerdings waren zwei Kernpunkte des Films vordefiniert: die Szenen des Kinoüberfalls und jene aus dem Gefängnis in Brandenburg. Beides Elemente des Films, bemerkt Ott, die auch als Modellbauten wieder aufgegriffen werden. Heise erzählt wie der Aufnahmeleiter von Kinder. Wie die Zeit vergeht (df 07) in seinem Hotelzimmer das voll funktionsfähige Modell von Halle zusammenlötete. Aufnahmen entstanden, die er letztendlich im damaligen Film nicht verwenden konnte.

Was haben Sie gesehen?

Der erste von vielen weiteren Diskutanten stellt Fragen zur Szene des Kinoüberfalls. Rätselhaft, skurril, fast wie inszeniert – wer ist im Kino, wo kommt die Gewalt her, wer greift an, welcher Film läuft. „Wir wissen nicht mehr als das was auf den Bildern zu sehen ist“, erläutert Heise den Hintergedanken des Schnitts. Er wollte zeigen, wie sich Leute in einer unsicheren, fast kriegsähnlichen Situation verhalten, wie sie sich bewegen.

Öffentliches/Schweigen

Peter Ott hat „historische“ und offene Momente im Film erkannt und ein Ringen um das Sprechen ausgemacht. Am zähesten zeige sich dieses in der Arbeitsbesprechung mit Fritz Marquard, es wird lange geschwiegen. Still ist auch die Multitude am Alexanderplatz, die erst reagiert, zu sprechen beginnt, um dem Funktionär eine Antwort entgegen zu setzen. Dann macht Ott verschiedene Szenarien aus, die zeigen, wie in der Öffentlichkeit das Wort ergriffen wird. Er erkennt eine Anordnung, bei der das eine zum anderen führt und an deren Ende die intensive Szene der Filmpremiere steht, bei der man als Zuschauer sehr involviert ist. Gibt es in der Ansammlung von Material ein „sich aufbauen“?

Frölkes Antwort, der Film sei chronologisch geschnitten wird von Heise wiederum verneint. Die ersten Szenen, die Kinder zwischen den Ruinen, seien 1992 im Rahmen der Dreharbeiten zu Stau – jetzt geht’s los (df 92) entstanden, aber nicht verwendet worden. Sie zeigen den an die Fußgängerzone angrenzenden verwahrlosten Teil von Halle, könnten aber aus heutiger Sicht, so Heise, auch einen „zukünftigen Krieg“ zeigen.

Ordnung/Materialität

Werner Ruzicka erklärt, dass er auch nach dreimaligem Sehen des Films nicht in der Lage sei, seine Ordnung zu erzählen und findet vor diesem Hintergrund die Diskussion zwischen Heise und Frölke über die (nicht vorhandene) Chronologie des Films besonders interessant. Die Modelle sind für ihn lediglich simulierte Versuche einer Ordnung, die Zeit bleibt arbiträr organisiert. Das Material ist auch im technischen Sinne historisch geworden. Ott: „Es ist alt geworden und klebt an einigen Stellen.“

Eingriffe/Musik

An zwei bis drei Stellen des Films sind für Peter Ott Eingriffe zu erkennen. Eingriffe durch die Musik von Charles Ives, Eingriffe durch gesprochenen Text, Gedichte. Gerade die Musik sei so stark, dass sie einem Kommentar gleiche.

Heise bekennt, Charles Ives Fan zu sein und erläutert, dass die verwendete Musik die Beschreibung eines Schiffuntergangs sei: Schweigen, das Schiff sinkt, Sprechen. Heise hat die Musik mit inhaltlichem Bezug ausgewählt. Das Zentralkomitee zerfällt wie die Musik. Die Versammlung vor der Parteizentrale habe er wie aus einer anderen Zeit heraus gedreht, so Heise. Keine Nachrichten, eher eine Inszenierung von antiker Öffentlichkeit, einer Agora (Ott). Heise hat einfach die Kamera angeschaltet und aus dem Bauch heraus gefilmt.

Präzises/Sprechen

Werner Ruzicka ist verblüfft von der Präzision des öffentlichen Sprechens, besonders in den Szenen aus dem brandenburgischen Gefängnis. Beim Drehen sei es interessant gewesen zu merken, dass die Gefangenen besser sprachen als ihre Wärter, erzählt Heise. Die Wärter machen ihren Dienst, die Gefangenen können nichts anderes tun als Sprechen. Alle sprechen jedoch Schriftdeutsch – eine Beobachtung, die die Diktatursituation beschreibt. Präzise Sprechen um Fragen zu vermeiden.

Heise ist spontan in das Gefängnis gefahren, in dem unter den Gefangenen Tumulte ausgebrochen waren. Er traf verschreckte Wärter an, die sich alle in ein Besprechungszimmer zurückgezogen hatten. Jeder von ihnen trat vor die Kamera und sagte etwas, dadurch bekam die Situation eine Struktur. Objektiv gesehen, so Heise, sei er benutzt worden um die Lage im Gefängnis zu entspannen. Die Gefangenen gaben ihm ein Pamphlet mit, dessen Verlesung in den Nachrichten die Tumulte beendete.

Geschichte/Utopie

In vielen Szenen des Films bricht die gesellschaftliche Hierarchie auf: „oben“ und „unten“ vertauschen sich. Dinge, die seit langem anliegen kommen zur Sprache. Für Michael Girke ist Material nicht nur ein Film des Rückblicks sondern zeigt präzise Momente, in denen Strukturen aufbrechen, Utopien von Öffentlichkeit zu sehen sind.

Dies, so Heise, nehme man erst wahr, wenn das Material lange unbeachtet bleibt, herumliegt. Bei der letzten Volkskammersitzung, bei der u.a. Peter Stadermann wegen seiner Stasimitarbeit zurücktreten muss, sortieren sich für Ott verschiedene Schichten neu übereinander.

Stadermann spricht im sich zersetzenden Parlament der DDR. Das Abfilmen der aufgezeichneten Übertragung erklärt Heise visuell und juristisch – es ist sein Material geworden.

Nicht/Zitieren

In der Auswahl des Materials für Material war es Heise wichtig, nicht sich selbst zu zitieren. Bereits Verwendetes, bereits Veröffentlichtes wird aussortiert.

Auf eine erneute Nachfrage zur Überfallszene erklärt Heise diese letztendlich doch.

Möglichkeiten/Haufen

Werner Dütsch kommt am Ende der Diskussion erneut auf den von Heise aufgemachten Gegensatz von länglich gedachter Geschichte und Geschichte als Haufen zu sprechen. Geschichte als Haufen gedacht, so Dütsch, lässt die Länge der Geschichte nicht erkennen. Wir wissen nicht was passiert. Der Film bringt uns in den Moment, in dem wir nicht wissen wie es weitergeht. Die singende Menge der Demonstranten ist vor der länglichen Geschichte.

Ein Haufen, dessen Struktur, so Werner Ruzicka, Dinge durch Druck auch in kostbare Diamanten verwandeln kann.

Film als ein Versuch, aus dem Material etwas herzustellen, das damals passiert ist bzw. was man davon im Kopf hat.