Film

Gambit
von Sabine Gisiger
CH 2004 | 107 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 29
04.11.2005

Diskussion
Podium: Sabine Gisiger, Werner Dütsch
Protokoll: Natalie Lettenewitsch

Synopse

Seveso 1976: Eine Explosion in der Chemiefabrik Icsema verseucht weite Landstriche mit hochgiftigem Dioxin, Tausende Tiere verenden, Kinder werden durch Chlorakne entstellt. Die Fabrik gehört zum Basler Konzern Roche, ihr technischer Direktor ist Jörg Sambeth. Im Film stellt er sich seiner Erinnerung und seiner Verantwortung. Aber: Was heißt Verantwortlichkeit in einem globalisierten Chemiekomplex? Und: Kann ein Konzern so dumm sein? Im Schach übrigens ist Gambit das Bauernopfer.  

Protokoll

Der Dokumentarfilm scheint sich gelegentlich als Beichtstuhl zu etablieren, als Instrument für Abbitte und Vergebung. So wirkt es zumindest im Falle von Gambit, der im Zusammenhang mit der Dioxin-Kastastrophe von Seveso (1976) ein aufwändiges Schuld-und-Sühne-Epos entwirft. Die Versöhnungsfunktion des Films wird gleich zu Beginn der Diskussion deutlich, als Werner Dütsch die Regisseurin fragt, wo sie am Vorabend der Duisburger Aufführung war: Da hat sie den Film nach Seveso gebracht, gemeinsam mit ihrem Protagonisten Jörg Sambeth, ehemaliger technischer Direktor bei Givaudan / Hoffmann La Roche. Nach der Vorführung hat er sich offiziell bei den Zuschauern bzw. den Einwohnern von Seveso entschuldigt, wie sie mit deutlicher Ergriffenheit berichtet.

An den Fakten möchte sich Werner Dütsch entlang hangeln und die entscheidenden Tage der Katastrophe nochmals durcharbeiten, was die Diskussion teils zur Chemiestunde macht („Was für ein Stoff ist da nun eigentlich genau ausgetreten?“), teils zum Beharren auf der Schuldfrage beiträgt („Können wir Jörg Sambeth seine anfängliche Unwissenheit wirklich abnehmen?“). Ein Zuschauer schreitet ein und unterbricht die chronologische Rekonstruktion mit der Frage nach der Funktion des Epilogs, in dem der Journalist Ekkehard Sieker auftritt (seiner These nach wurde das Seveso-Dioxin zu Militärzwecken produziert und nie vernichtet). Es gehe dabei nicht so sehr um den Wahrheitsgehalt von Siekers Vermutungen, sagt Gisiger, es gehe um die Dramaturgie des Innenlebens von Sambeth, und die Begegnung mit Sieker sei ihm ein entscheidender Anstoß zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewesen (die sich auch in einem Buch mit dem Titel „Zwischenfall in Seveso – ein Tatsachenroman“ kanalisiert hat).

Werner Dütsch geht nun ganz zum Anfang des Films zurück, der die NS-Vergangenheit der Familie anschneidet. Die Wichtigkeit dieses Prologs sieht er darin, dass er das spätere Schweigen und die Autoritätsgläubigkeit Sambeths erkläre; jener habe die Geisteshaltung seines Vaters abgelehnt, aber letztlich doch verinnerlicht. Es wird also psychologisch auf dem Podium – bis sich Eva Hohenberger zu Wort meldet. Sie verweist auf die am Melodram orientierte Struktur des Films und fragt die Regisseurin, weshalb sie ihre Bilder so „zumusiziert“ habe (Gisiger: „Mir gefällt’s!“). Weitere Zuschauer schließen sich an und beanstanden, die Musik stilisiere Sambeth zum tragischen Helden, der mehr gelitten zu haben scheint als die Opfer von Seveso. Werner Dütsch eilt zu Hilfe, „Tosca“ sei doch für ein italienisches Motiv wie geschaffen… Gisiger verteidigt ihre wenig distanzierte Herangehensweise, sie habe eben „genauer hinsehen und verstehen“ wollen – „was hätten wir andernfalls gelernt?“ Im Übrigen müsse der Film keine Schuldzuweisung vor sich her tragen (das muss er in der Tat nicht und das wurde auch so nicht eingefordert).

Werner Ruzicka greift die Musikfrage auf, die er ähnlich kritisch gestellt hätte. Eine Stärke des Films sieht er in dem „Sittengemälde“ vom kleinen Südbadener, der Deutschland den Rücken kehrt und in der Schweiz Karriere macht, wo die Bourgeoisie sich ungehemmt präsentiert. In den Bildern sei soviel Potenzial, dass der massive Musikeinsatz nicht nötig gewesen wäre.

Doch noch einmal geht es um den Epilog und die „Fakten“. Im Falle einer beabsichtigten Dioxinproduktion ohne sein Wissen, so Werner Dütsch, wäre Sambeth von Hoffmann La Roche nicht nur als Sündenbock benutzt, sondern selbst belogen worden. Beim Stichwort „kriminelle Konzernenergie“ stößt der im Publikum anwesende Ekkehard Sieker zum Podium und referiert Ungereimtheiten bezüglich der Bedingungen im Werk und des späteren Verbleibs der Dioxinfässer. So oder so wurde ein möglicher Dioxinaustritt von Hoffmann La Roche aus Profitgründen bewusst in Kauf genommen („Sollbruchstelle“). Gisiger erinnert daran, dass Sambeth im Vorfeld die Schließung des Werks vorschlug bzw. für den Fall eines Weiterbetriebs Investitionen ansetzte, die sich dann aber „verläpperten“.

Ein Zuschauer stellt die Frage, was für eine Dokumentarfilmerin eine so starke Identifikation mit ihrem Protagonisten, ihrem „Kronzeugen“ bedeute. Gisiger will statt von Identifikation lieber von Empathie sprechen – durch Empathie habe sie zu einem „eigenen Blick“ finden wollen. Der Film hätte ein „antikapitalistischer Propagandafilm“ (!) werden können oder im gegenteiligen Fall eine völlig affirmative Übernahme von Sambeths Standpunkt – sie möchte sich dazwischen positionieren. Der Film sei nicht seine, sondern die von ihr erzählte Geschichte, die von ihr gewonnene Sicht. Sambeth hätte den Film „anders gemacht“, ist allerdings „einverstanden“. Der Einwand, mit Identifikation sei ja nicht Zusammenfall der Identitäten gemeint, scheitert an begrifflichen Verständigungsproblemen: „Da bin ich als Schweizerin überfordert“. Karin Jurschik formuliert, Zweifel würden „zugekleistert“, obwohl die entsprechenden Bilder im Film doch da seien (z.B. das vom hochbegabten Chemiestudenten, der per Blitzkarriere zum technischen Direktor wurde und trotzdem angeblich nicht ausreichend bescheid wusste). Gisiger erwidert, durch den Einbezug solcher Informationen würden Zweifel doch überhaupt erst ermöglicht, würden also Brüche offengelegt und nicht zugekleistert.

Es liegt einfach zuviel Gewicht auf den psychologischen gegenüber den strukturellen Faktoren (z.B. innerhalb des Konzerns), fasst Eva Hohenberger zusammen – Vorgängen wie denen in und um Seveso könne man durch den individuellen Fokus letztlich nicht näher kommen (auch Fragen wie die „Nationalwurzeligkeit“ Sambeths findet sie anders als Werner Ruzicka unerheblich). Der Verweis aufs Strukturelle scheint zunächst überhaupt nicht anzukommen: „Ihre Frage hat wohl damit zu tun, wie sie die Welt sehen.“ Dann doch Verständnis: „Ich kann das verstehen, ich habe sie auch mal so gesehen – aber jetzt bin ich 46 und sehe sie anders.“ (Hohenberger hätte demnach die Chance zur Weltsichtänderung bereits verpasst.)

Auch andere Zuschauer kritisieren (sogar mit dem schon gefallenen Begriff „Propaganda“) die stark emotionalisierenden filmischen Mittel, die kaum Distanz ermöglichen. Gisiger fühlt sich auf die Vorwürfe vorbereitet: Es sei doch eine der ältesten Diskussionen im Dokumentarfilm, was „erlaubt“ sei. In der Schweiz sei man in dieser Hinsicht stets „super-straight“ im Sinne des Cinema Verité gewesen – sich selbst sieht sie da als Gegenpol: Man darf alles einsetzen, und zwar „ohne Scheu“. Mit einem Kollegen, der gerade an einem Film über Frauenhandel arbeitet, ist sie zu einem bemerkenswerten Vergleich gekommen: Der Unterschied zwischen Dramaturgie und Zuhälterei liegt in der Absicht (sprich: der Zweck adelt die filmischen Mittel).