Film

Es sollen rote Tulpen blühen
von Ingeborg Jacobs, Hartmut Seifert
DE 2005 | 108 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 29
01.11.2005

Diskussion
Podium: Ingeborg Jacobs, Hartmut Seifert
Moderation: Fred Truniger
Protokoll: Natalie Lettenewitsch

Synopse

Wegen des großen Kupferschmelzwerks ist Karrabasch, am Südostrand des Urals, in Wolken aus Schwefelgas und Zinkstaub gehüllt. Sie ist laut UNO die schmutzigste Stadt der Welt. Mit 45 zu sterben ist normal. Trotzdem: die Bewohner leben ihr Leben, tanzen und feiern. Vater Serofin hält seine Messe, Paraden für den Staatsfeiertag werden geübt und Nina Djerebzowas 102 Jahre alte Mutter stößt auf die Geburt ihrer Ur-Urenkelin an.  

Protokoll

Für die Dreharbeiten in der mutmaßlich schmutzigsten Stadt der Welt fuhren Ingeborg Jacobs und Hartmut Seifert zwischen Januar und Herbst 2004 dreimal nach Karrabasch, das von einem riesigen Kupferschmelzwerk und seinen ungefilterten Dämpfen dominiert wird; 1989 erhielt es von der UNO den Titel „schwarzer Fleck der Erde“. Die Eingangsszene, in der sich das Tor zur Werkseinfahrt öffnet, erinnert Fred Truniger an Tarkowskis Stalker, an die Einfahrt in die „Zone“. Eine der im Film zu Wort kommenden Einwohnerinnen vermutet, Zugereiste müssten auf der Stelle „krepieren“; in der Tat war die Luft gewöhnungsbedürftig und ein Dreh musste wegen allergischer Reaktionen von Hartmut Seifert abgebrochen werden – aber „so schlimm war’s auch wieder nicht“.

Protagonisten

Die drei Drehphasen boten die Möglichkeit, über Momentaufnahmen hinaus „Geschichten“ zu entwickeln und Protagonisten zu etablieren, vor allem die 102 Jahre alte Urgroßmutter, die (obwohl doppelt über dem Durchschnittsalter gelegen) bei allen Besuchen noch lebend angetroffen wurde und am Ende Ur-Urgroßmutter wird. Daneben auch ein immer wieder auftauchender Reporter, der offenbar als Vermittler fungierte und den beiden Filmemachern alle (oder jedenfalls viele) Türen öffnete – auch im Werk, was keine Selbstverständlichkeit war. Gespräche mit einem der Arbeiter fördern allerdings wenig Reflexion über die dortigen Bedingungen zutage. Der neue Werksbesitzer, der in den Gesprächen mehrfach erwähnt und wegen seiner ökologischen und sozialen Versprechungen als eine Art Heiland charakterisiert wird, ist im Film nicht zu sehen – als sichtbarer Heiland könne er aber ohnehin nur enttäuschen.

„Deutsche“ und „Russen“

Die Anwesenheit der Filmemacher sei nie als störend empfunden worden, weder im Werk noch in den privaten Räumen noch bei offiziellen Anlässen wie am Staatsfeiertag, da man in Russland „gerne mit uns Deutschen spricht“. Vorarbeit an der Vertrauensbasis war zwar erforderlich, aber schließlich vermittelten die Karrabascher: „Ihr gehört zu uns“. Zumal Ingeborg Jacobs lange Zeit in Russland gelebt hat, wie sie mehrfach betont, gefolgt von der etwas irritierenden Formulierung, dass sie „dieses Volk“ zugleich liebe und hasse. Sie schätzt die Offenheit, die ihr entgegengebracht wurde, obwohl sie doch potenziell eine NS-Tochter sei; als Grund für die andererseits negativen Gefühle nennt sie auf Nachfrage die in Russland verbreitete Weigerung, widrigen Bedingungen gegenüber selbst aktiv zu werden.

Fred Truniger sieht zwei Ebenen in dem Film, einerseits die persönliche, andererseits die der sowjetischen Geschichte, verdichtet in einer Art Mikrokosmos. Dass sich dieser Zustand in Karrabasch so konservieren konnte, liegt an der Abgelegenheit der Stadt, die auch Verbannungsort für Kriegsgefangene war, zugleich nie ein Ort der Rebellion.

„Ich spreche gern mit Menschen“

Durch die direkte Aufeinanderfolge im Programm und durch die Argumente in den jeweiligen Diskussionen bildet sich ein deutlicher (wenn auch vielleicht übertrieben antagonistisch zugespitzter) Gegensatz zum ersten Film des heutigen Tages heraus, den Fred Truniger kurz anspricht. Moskatchka bleibt zu den Bewohnern eines Rigaer Stadtviertels, die er in langen, statischen Einstellungen beobachtet, auf Distanz. Ingeborg Jacobs hatte der Regisseurin Annett Schütze in der ersten Diskussion auf sehr moralisierende Weise vorgeworfen, in einer brenzligen Situation nicht sofort selbst eingegriffen zu haben. Des weiteren wurde kritisiert, dass sie nicht mit den Abgebildeten in Dialog trete und so die vermeintlich wahre Stärke des Dokumentarischen ausschöpfe. Während Schütze sich daraufhin energisch gegen Interviews und den inflationären Einsatz von talking heads aussprach, bekennt Jacobs nun also: „Ich spreche gern mit Menschen.“ Ihre Interviews werden von einem Diskutanten allerdings als stellenweise problematisch empfunden, etwa die provozierende Frage „Haben sie keine Angst um ihre Kinder?“ Jacobs war damit selbst nicht ganz glücklich, wollte aber an dieser Stelle nicht abbrechen.

Eine Zuschauerin bekundet, der Film habe ihr im Gegensatz zu Moskatchka „Spaß gemacht“, weil man „mit den Menschen mitgehe“. Gestört hätten sie einzig die roten Buchstaben des Titelvorspanns. Weitere detailbezogene Nachfragen gelten der Schriftgröße der Untertitel und den technischen Schwierigkeiten, in einem Dampfbad ohne Beschlagen der Kamera zu drehen.

Kamera / Inszenierung

Didi Danquart lobt die im Film stattfindenden Gespräche, problematisiert aber die Kameraarbeit, die seinem Empfinden nach stellenweise zu prätentiös werde und nicht das im Katalog so nachdrücklich propagierte Konzept erfülle, möglichst unsichtbar zu sein. Manche Schwenks etwa hätten doch sehr konstruierende Wirkung, was Hartmut Seifert natürlich mit dem Verweis auf seine Subjektivität kontert. Beteuert wird wie so oft emphatisch und mit „bestem Gewissen“ (als sei alles andere die schlimmstmögliche dokumentarische Sünde), dass nichts inszeniert wurde und man nur „Glück“ gehabt habe. Ein Diskutant fragt später noch mal nach, ob nicht einzelne Einstellungen gar mehrmals geprobt wurden, was empört zurückgewiesen wird. Für Fred Truniger wirkt es zumindest, als hätte eine Protagonistin sich auf ihren „Auftritt“ vorbereitet, da sie plötzlich Rouge aufgelegt hat und besonders patriotische Worte findet.

Lamento vs. Lebensfreude

Fred Truniger konstatiert einen „Lamentiergestus“, den man aus Filmen über die ehemalige Sowjetunion gewohnt sei: „Uns hört keiner zu“. Ob man diesen umso mehr provoziere, wenn man dann doch endlich zuhört? Ingeborg Jacobs will auf das Gegenteil hinaus: Während sie in der Konzeptionsphase durchaus noch die Vorstellung von Gejammer, Resignation und Alkoholismus in Karrabasch hatte, habe sich dieses Bild während der Dreharbeiten gewandelt – die Stimmung war in Wirklichkeit „weniger besoffen“ und hätte sie positiv überrascht. Fasziniert habe sie letztlich, dass die Bewohner trotz ihrer Situation nicht trübsinnig, sondern tatkräftig und lebensfroh seien, wie es z.B. in den Tanzszenen zum Ausdruck komme. (Hier sei die vorsichtige Nachfrage erlaubt, ob nicht auch das ein in vielen Osteuropa-Filmen gern vermitteltes Bild ist – die Umgebung ist dreckig und elend, die Menschen aber trotzdem vital, tanz- und feierfreudig?)

Die letzte Frage gilt der Finanzierung des Films, da der extrem kurze Abspann auf keine Förderung schließen lässt. In der Tat wurde sie durch Eigenmittel gesichert – und letztlich auch durch viele Sparmaßnahmen, d.h. den Einsatz von DV-Material und auch den Verzicht auf einen professionellen Tonmann. Trotzdem waren Spenden für das örtliche Kinderheim mit im Budget, wie abschließend erwähnt wird. So viele gute Absichten und ein so gut gemeinter Film erschweren es, kritisch zu sein (ohne wiederum unangemessen polemisch zu werden).