Film

Besser und besser
von Alfredo Knuchel, Norbert Wiedmer
CH 1996 | 80 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 20
06.11.1996

Diskussion
Podium: Alfredo Knuchel, Norbert Wiedmer
Moderation: Constantin Wulff
Protokoll: Niko Ruhe

Protokoll

Keinen Prolog und keinen Epilog sollte es geben, keinen Kommentar, die Geschichte sollte sich selbst erzählen. Zunächst hatten Knuchel und Wiedmer ein Portrait geplant über einen, der „sein leben lang als braver Angestellter gearbeitet hat und dann wegrationalisiert worden ist“. Armin, den ihnen das Arbeitssamt Thun als „Weltmeister im Bewerbungenschreiben“ genannt hatte, war nun aber gerade sein Leben lang um Unabhängigkeit bemüht und ja auch tatsächlich immer sein eigener Arbeitgeber gewesen. Doch nach dem ersten Gespräch mit ihm spürten sie „dieses Potential“, und da sie auf keine These festgelegt waren, entschieden sie sich für eine Langzeitstudie über die Baders. Bei ihnen fanden sie mikrokosmisch verdichtet, woran die Schweiz krankt in dieser Zeit: Die allgemeine Mißstimmung – die traumatische Erfahrung einer Arbeitslosenquote von 5% erstmals in ihrer Geschichte, die Angst, der allgemeine Werteverlust, die Nazimillionen, der Mythos vom „anständigen Schweizer“ ruiniert, das Drogenproblem – die Mißstimmung, die allgemeine Mißstimmung.

Doch soweit der Protokollant das Publikum um sich hatte reden hören, war es vor allem an einem interessiert: Wie kam es zu diesem Film – wie konnten diese Leute, wie konnten Knuchel und Wiedmer diesen Film machen? Was war das? Und Wulff fragt: Man ist erstaunt, ich war verblüfft – wie ging das alles? Wie konnten die sich so „preisgeben“? Nein, Absprachen habe es keine gegeben, sagt Wiedmer. In jedem Moment der Dreharbeiten hatten sie die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. „Wir haben nur gedreht, wenn sie es wollten“. Und als die Mutter („die Autorität der Familie, die stärkste Person ohne Zweifel“) am Schluß in den Schneideraum kam, und den fertig montierten Film gesehen hat, da hat sie gesagt: OK, so sind wir. Und der Film gefiel auch Armin, dem „Kraftzentrum“ (Wulff), dessen Vitalität die Regisseure sofort erkannt haben. „Begnadeter Fernsehkonsument“, „seit Jahren nicht mehr im Theater gewesen“, und den Film („noch ein langweiliger Schweizer Dokumentarfilm“) wollte er sich sowieso nicht anschauen – und doch heute ein „echter Fan“, sagt Knuchel, auf mehrere Festivals ist er dem Film schon gefolgt, und es würde die Regisseure nicht wundern, wenn er auch heute im Publikum wäre.

Und da kommt sie schon aus dem Publikum, die Frage: „Wie stark hat die Kamera als Katalysator gewirkt“? Am Anfang hat Armin sehr gespielt, meint Wiedmer, und war außerdem zugleich wie ein „dritter Regisseur“. Der Fährmann ist eine Kunstfigur (Knuchel), wegrationalisierter Typograph und „eine Art selbstgemachter Philosoph“.

Armin hatte sich nach dem Tod des Sohns „total abgekapselt“, „war in keinem Verein“ und „hatte keine Freunde“: Sie hatten das Gefühl, daß er mit jemand reden sollte. Themenabsprache gab es vor dem Beginn des Gesprächs keine, gab es auch sonst nicht, auch nicht bei dem Tischgespräch. Aber bei der Waldszene haben sie die Kamera dreimal abgestellt, es war ihnen zuviel.

Ach ja, und nach den Zwischenschnittpassagen war gefragt worden, von dem Zuschauer mit der Katalysatorfrage: Einerseits Hommage an die kalte Heimat“, „no contact“, serielle Bilder, Uniformität. Und das Radio versucht den Kontakt wiederherzustellen, „aber sie rufen im Radio an, sie reden nicht mehr miteinander“. Sagt Knuchel. Die Familie hat vor dem Film sehr lange nicht mehr miteinander geredet. Vielleicht hat die Kamera etwas „bewirkt“. Auch wenn sie weder Sozialarbeiter noch Psychotherapeuten seien.

Ach ja, die Zwischenschnittpassagen: Im Publikum denkt jemand daran, daß er an Michael Haneke gedacht hat, „ähnliche Sujets“. Und auch der Protokollant hat an den „7. Kontinent“ gedacht und er nickt eifrig, während er weiterschreibt: Das fand er ziemlich gut und bemerkenswert – damals. Er sieht auf, Alisch guckt, hat Mitprotokollant Alisch sein Nicken wohl gesehen?, er nickt nicht mehr, hat er zu wichtig genickt? War es vielleicht nicht natürlich, war es vielleicht wie bewußt, war es vielleicht peinlich? Und gibt der Protokollant sich preis, da er dies schreibt? Geben die Baders sich preis?

… Wiedmer fühlt sich „geehrt“, bewußt hoben sie die Vorbilder nicht gewählt, aber er sieht das auch. Und Kritiker in einer Österreichischen Zeitung haben es auch gesehen, sogt Knuchel: „Ein wenig Kulturkritik im Stile Hanekes“, billig fanden sie das. Ach ja, die Zwischenschnittpassagen, denkt der Protokollant.

Wulff: Ein „wichtiger Grundstrom melancholisch-fatalistischer Grundstimmung“, Satie, das „Wasser, das immer wiederkehrt“, und Doris Day singt „Che sera?“ – im Hintergrund.

Wiedmer ist „immer wieder verwundert, was intelligente Leute so alles herausfinden“. Aber wenn man den „Mythos wegnimmt“, ist es eine „adäquate“ Musik“ – dort eingesetzt, wo „trügerisches Idyll“ gezeigt wird, Schlaf- und Wohnzimmer wie Stilleben, melancholisch-resignativer Ton. Ach ja, die Zwischenschnittpassagen.

Ich staune, sagt jemand im Publikum: Melancholisch, resignativ. Ich habe gelacht, wie viele andere auch, und durchaus vergnügt: Ob die Musik vielleicht notwendig war, um diese resignative Stimmung aufrechtzuerhalten.

Nur drei Vorführungen hat es gegeben, wo so gelacht wurde, sagt Knuchel: Locarno, und jetzt hier. Warum das in Leipzig anders war, „weiß ich auch nicht“.

Fast ein kleines happy end, setzt es aus dem Publikum nach, der Sohn trifft diese sehr sympathische Frau, es ist Frühling… Warum dieses Ende, warum gerade dort?

Aber, sagt Knuchel, da kommt doch noch eine Einstellung, der „versteinerte Armin“ im Auto. Und das Gespräch mit der Freundin, das hatte für uns einen „brüchigen Charakter“, Armin und Marlies vor dreißig Jahren, vielleicht war das ja damals auch so, „also ich weiß nicht, wie sie das fanden“? Und Knuchel erzählt ein wenig, was nach diesem Ende noch alles war, aber da war der Protokollant zu langsam, „mit der Freundin geht es noch“, „Armin alle Naselang nach Fuerteventura“, „hat Lichtpauserei aufgegeben.“ uswusf., too much.

Wann sie im Wald denn die Kamera abgestellt hätten, will man im Publikum jetzt genauer wissen: Auch Marlies selbst habe zum Teil abgebrochen, sagt Wiedmer, „er als Katalysator“ habe „mit der Kamera eine Zentrifuge in Bewegung gehalten“, „die für den Film nicht gut war und nicht für Armin und Marlies“, so könne er sich das vielleicht nachher jetzt rekonstruieren, aber das war da ganz intuitiv. Die Vertrauensbasis muß so sein, daß man wirklich weiß, daß die Leute jederzeit sagen können, wenn sie nicht mehr wollen – daß man weiß, daß sie das wirklich sagen, wenn sie nicht mehr wollen – wie genau hat er es gesagt, fragt sich der Protokollant, der nicht mitkommt, aber in dieser Art.

Man wird da irgendwie „Beichtvater“, „wird automatisch Psychotherapeut“, „aber das wollten wir nicht, wir wollten einfach einen möglichst guten Film machen“, das war insofern „Nebeneffekt“, „sekundär“.

Aus dem Publikum: „Stück Selbstinszenierung“, ob man vielleicht dann nicht mehr habe drehen wollen, wenn „die Selbstinszenierung zu stark und durchsichtig wurde“. Selbstinszenierung, Selbstinszenierung, Selbstinszenierung: Here we go. Aber noch nicht ganz: „Es ging uns nicht um Sensationen, das wäre uns zu billig geworden. Die wurden einfach sehr aggressiv gegeneinander“ (inszeniert sich eigentlich, wer sich verteidigt?), sagt Knuchel, und dann auf eine Nachfrage von Wulff: Der Film hat in der Tot eine „Spielfilmdramaturgie“, aber das ergibt sich so aus der chronologischen Ordnung, ansonsten habe bei den Gesprächen nur Reduktion stattgefunden.

Jetzt kommt Ruzicka, der Schrecken des Protokollanten (als müder Protokollant), jetzt wird es unübersichtlich, ietzt wird es dicht pro Zeit: Leute haben seit Jahren nicht mehr miteinander geredet, „sagt ihr“, und jetzt: „Tyrannei der Intimität“, erst wo sie die Kamera, die Öffentlichkeit „als Sicherheit hinter sich wissen“, trauen sie sich zu reden, jetzt machen sie die Punkte, die sie seit Jahren machen wollen. „Grausamkeit, die traurig macht“: „Wenn du mir nicht zuhörst, hört es die Kamera“ (nur als Kontrollinstrument angesprochen, fordernd, einschüchternd, denunzierend, zwingend, Machtinstrument). Wenn es Öffentlichkeit gäbe, könnten die Kleinfamilien „gerettet“ werden. Als ob es so sei: Wenn man nur ins Reden käme, würde alles besser.

Wiedmer: „Wir wissen nicht endgültig“, ob sie wirklich seit Jahren nicht mehr miteinander geredet haben. Und Knuchel: Sie haben es aber gesagt. Und Wiedmer: Wie macht man einen Film, „der Alltag dramatisiert, spannend macht“ – „dieses Problem ist ja auch unseres“. Glaubt nicht, daß es notwendig ist, zu inszenieren.

Knuchel: Arm in ist ein „begnadeter Selbstdarsteller“ („begnadeter Fernsehkonsument“, „begnadeter Selbstdarsteller“: Armin kann das, der ist souverän), und Marlies verteidigt sich, muß es vor der Kamera, da sie herausgefordert wird: Trotz Kamera sind sie „autonom in ihren Entscheidungen“, keine Opfer, keine unbeholfenen Menschen.

Ruzicka: Frage, wie Weit eure Kamera Leute „in eine Situation zwingt, in der sie aufeinander reagieren müssen“.

Knuchel: Man hätte natürlich den Wunsch, etwas abbilden zu können, ohne es zu beeinflussen, aber das geht mit dem verdammten Apparat eben nicht.

Aus dem Publikum: Gab es Kamerablicke?

Knuchel: Wir waren nur eine kleine Equipe, es gab eine sehr große Routine, die Kamera wurde nicht gesucht und rasch vergessen. Und Wiedmer fällt noch ein: Sie hatten für die Mutter ihre Cousine als Gesprächspartnerin vorgesehen, ein Termin war verabredet, dann kam die Waldszene, und die Mutter hat den Dreh abgesagt: Sie wolle nicht aufrechnen.

Aus dem Publikum: Hatte oft das Bedürfnis, die Protagonisten vor ihrer eigenen „Exhibitionierung“ zu schützen (wie engl. exhibition, die Ausstellung?), zwei („zwei?“) Menschen reißen sich hier öffentlich die Seele aus dem Leib“. Geht das nicht zu weit? „Wenn ich wenigstens das Gefühl hätte, es ginge um gesellschaftliche Verhältnisse, aber es scheint um rein menschliche Verhältnisse zu gehen, die wirtschaftliche Situation scheint schließlich OK, halbwegs gutbürgerlich“. Umpf. Wie ein Tritt in die Magengrube, findet der Protokollant. Wiedmer protestiert (oder war es Knuchel? Habe die Namen nicht gut mitgeschrieben): Haben Armin „sehr vor sich geschützt“, vieles nicht gezeigt, „hätten ihn gnadenlos in die Pfanne hauen können“. Das ist die Kamera als Instrument der Macht – von der man gnädigerweise keinen Gebrauch macht. Wieviel Macht könnte man über die Zuschauer haben, die da sähen, wie man jemanden in die Pfanne zu hauen versucht, welche Macht kann man hier haben?

Wiedmer scheint es langsam zu reichen: Immer wieder diese Besorgnis um „ethische Stubenreinheit“ in den Diskussionen über ihren Film. Er staunt über den Sturm der Entrüstung darüber, daß „in milder Form“ (echt?) Diskussionen öffentlich werden, die jeder schon geführt hat.

Wulff setzt noch: „Herausstellung von Intimität ist legitimiert, wenn man sie durch Gesellschaftskritik stützt“. Haben die Regisseure überlegt, die Gesellschaftskritik breiter anzulegen?

Wohl nicht so sehr. Und außerdem, sagt Wiedmer (Knuchel?), sei „Legitimation“ auch darin, daß man einen Entwicklungsprozess beschreibt und katalysiert. Die Leute würden nicht „ex und hopp benutzt wie in einer Reality-TV-Show“.

Aus dem Publikum: Fand die Form der Kommunikation eigentlich sehr gelungen. Das Gespräch am Tisch: Armin versucht, sich verständlich zu machen und will seine Frau verstehen, nicht „einer will Recht haben“, sondern immer wieder „Perspektivenwechsel“, bewundernswert, wie die Leute miteinander umgehen können. Fand den Film durchaus nicht bedrückend, resignativ. Zeigt vielmehr eine ungeheure Vitalität, so Armin: Ich bin jetzt 61 und will noch was machen.

Knuchel: „Aber deprimierend, daß einer mit 61 Ziele hat, die nicht viel anders sind als das, was er gelebt hat“.

Nicht sehr deprimiert ein anderer Zuschauer: Er habe es in der Diskussion vermißt, daß dieses vitalisierende Moment angesprochen wird. Starkes Hoffnungsmoment, bei allen dreien, und sie verlieren es nicht. Die Träume bleiben.

Aus dem Publikum: Wurde der Kamerablick da nicht weiter im Laufe des Films?

Knuchel: Wenn, dann war das im wesentlichen „reine Intuition“ – aber durchaus bewußt in der letzten Szene auf der Bank, die war so schön, die Liebeserklärung der Frau an ihn.

Ruzicka: Die Kamera führt die Menschen in bestimmten Situationen zusammen und beobachtet sie in ihnen. Die Menschen erinnern tradierte Muster sozialer Situationen: Ehepaar geht spazieren, Familie ißt miteinander, Mann trifft Freund. Wo sie selbstverständlich in ihrem Alltag aufgehen, entspricht ihr Verholten schon lange nicht mehr diesen tradierten Mustern dramatischen Verlaufs von Begegnung: Diese spiegeln vielmehr „etwas, wie es in vergangenen Zeiten war“. Wo sie sich aber beobachtet fühlen, besinnen sich die Menschen auf diese dramatischen Muster und versuchen, ihnen zu entsprechen. Diese Muster beinhalten aber vor ollem eins, vor allem Anderen ein ganz Einfaches: Daß geredet wird, wenn Ehepaar spazierengeht, Familie miteinander ißt, Mann Freund trifft. Und so tun die Leute vor der Kamera, was sie in ihrem anonymen Alltag schon seit Jahren nicht mehr getan haben: sie reden. Warum reden sie? „Verunsicherung“. Aus der Selbstverständlichkeit der Immersion in den Alltag durch den Kamerablick herausgerissen, klammern sie sich an die tradierten Vorbilder. „Anders als bei Seidl“ hätten die Menschen bei Knuchel und Wiedmer nicht die Möglichkeit, zu schweigen, sagt Ruzicka, sogt es ganz anders, aber sagt etwas in dieser Art.

Wo sie sehen, daß man durch sie auf sie blickt, werden die Menschen im Blick „der Kamera“ des Dramas ihres Lebens bewußt, irgendwie. Der Blick durch die Kamera geht auf sie ganz privat und geht zugleich auf sie als Exponenten von irgend etwas, das mehr ist als ihr privates allein und von mehr als privatem Interesse. Hierin sieht der, der sich vom Blick erfaßt fühlt, daß sein Leben – und sei es in seiner Banalität – nicht nur für ihn, für ihn ganz allein dramatisch ist. Vom Blick durch die Kamera in diesem Drama erfaßt, fühlt er sich annehmbar darin, daß es ist und er in ihm, in der Art, in der er es fühlt – sich vor sich annehmbar, sich vor anderen annehmbar, annehmbar das Drama: Dies zu Armin, dem begnadeten Selbstdarsteller, und zu Marlies, und dem Sohn, und der Freundin. Nicht, daß Blicke nicht als zwingend empfunden werden und zum Zwingen auch gemeint sein können: Aber es fühlt sich offenbar mancher, da er den Blick des Anderen erfaßt, nicht nur gezwungen, sondern auch befreit zum Drama, befreit in ihm: Das Drama, so sieht er, so spürt er und spürt er andere empfinden, ist nicht nur Funktion seiner Inszenierung und Selbstinszenierung: Drama ist mindestens so wirklich, wie Banalität und Frustration, mindestens so wahr, wie man die Möglichkeit der unendlichen Gleichgültigkeit einer absolut privaten Mickrigkeit denken kann, einer hoffnungslosen Erbärmlichkeit, die auf Erbarmen nicht und nie rechnen kann: Drama ist. Amen, denkt der Protokollant als Selbstprotokollant, und „Umpf“, „wie schrecklich kitschig“, denkt er. Ach ja. Na ja.

Wulff: „Belassen wir es bei diesen Positionen: Die einen, die dem Film glauben, die anderen, die es nicht tun“. ??? Wer ist wer und was ist was? „Die spannendste Diskussion bisher auf der Duisburger Filmwoche“…