Film

Der Ort, die Zeit, der Tod
von Peter Voigt
DE 1994 | 42 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 18
13.11.1994

Diskussion
Podium: Peter Voigt, Christian Lehmann (Kamera)
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Antje Ehmann

Protokoll

„Ein See im östlichen Deutschland. In seinem Wasser treibt und hockt an seinen Ufern das Schweigen der gleichgültigen Geschichte.“

Dies die ersten Worte des Films. Der Ort – ein See; die Zeit – sie treibt und hockt; der Tod – ein Schweigen, gleichgültig!

Erst ein zweites Hören und Sehen des Films erkennt die Signifikanz seines Auftakts. Hier spricht die denkbar bündigste Einführung, Kommentierung und Selbstcharakterisierung zugleich. Die örtliche, zeitliche und tödliche Dimension des Films prädestiniert ihn auch zum idealen Schlußakzent des Festivals; und das nicht nur aufgrund der glücklichen Parallele des Filmtitels zu dem ihn genau abstrahierenden Festivalmotto. Peter Voigts Film bündelt außerdem auch diverse Stränge und Ansätze der filmischen und wörtlichen Ereignisse des Festivals. So die Erklärung und Entschuldigung Ruzickas, gerade diesen Film an das Ende des Festivals gesetzt zu haben.

Die erste Frage des ungewöhnlichen Gesprächs über den ungewöhnlichen Film richtete sich ungewöhnlicherweise nicht an den Regisseur, sondern an den Kameramann. Lehmann hatte die Idee zum Film und erzählt:

Das merkwürdige Dorf Altrese habe er bereits in den 60er Jahren einmal zu Augen bekommen. Zu Ohren kamen ihm do1t seltsame Gerüchte. Ein Musterdorf? Ein Olympiadorf? Es bedurfte – nun bei erneutem Interesse – weniger Recherchen, um zur Wahrheit der ersten Aussage zu gelangen. Da die Geschichte des kleinen Dorfes eine große ist, war ihm rasch klar, dieses Filmsujet nicht alleine bestreiten zu können. So kam es zum Buch und der Regie Peter Voigts, der die Idee dann auch in einen „echten Voigt-Film“ überführt habe, bemerkt Ruzicka süffisant. Gemeint ist das typisch Voigtsche Kombinat von Stil + Mittel, Stoff + Form. Gefragt ist eine spezifische Begründung der eigenwilligen Kombination von Stilebenen.

„Das ist so anstanden, hot sich als passend ergeben“, die genaue Antwort Voigts. Ruzicka hakt weiter, und diese Form des Zwiegesprächs als ein auch Qualitäten des Entertainments tragendes Hin und Her auf dem Podium sollte die weitere Diskussion beherrschen Ein bescheidenes „es hat sich so ergeben“ reiche – zumindest für Duisburg – nicht aus. Ruzicka interessiert, ob das Material der angebotenen Collage – die heimatkundlichen Texte, die Tierärzte als stumme Zeugen, die Grabstelen-Schriften – gesucht oder gefunden wurde? Nichts sei gesucht worden! Das Material, aus der Retrospektive gesichtet, sei da gewesen; die Grobstelen hereinzunehmen, von Anfang an ein Unbedingt des Films. Die (die Zuschauer offensichtlich irritierenden) heimatkundlichen Texte fanden ihre erste schöne wie überzeugende Begründung darin, der Natur eine Stimme zu verleihen.

Ruzickas Einladung an das Publikum, Voten, Anmerkungen oder Fragen zu äußern schoß ins Leere. So übernimmt Voigt, seitwärts gesprochen, eine zentrale Frage: „Was ist Heimat?“

Ruzicka gefällt die Antwort des Films und bringt sie auf die Stichworte „dubios, ortlos, dekomponiert“. Seine Gegenfrage kitzelt gezielt die Charmance und eigenwillige Kühnheit des Films heraus, also eine Geschmacksfrage: Was die für ihn nun doch problematischen, das Stilkontinuum des Films radikalst zerschneidenden, sich überschlagenden Einblendungen der Kriegsverbrecher-Bilder sollen? Die so unmotiviert daherkommende „Videoästhetik“ sollte totsächlich eine pure „Geschmackslosigkeit“ sein, so Voigt. Der Film sei mit seinen schwelgerischen Blenden insgesamt so Etepetete, daß da sein mußte. Außerdem rechtfertige auch der Bild-Gegenstand den Stilbruch. Es handele sich schließlich um zwei importierte Tote, die nicht in die Landschaft und den Ort gehören. Sie sollten gleichsam direkt aus der Hölle herantrudeln.

Und endlich stapeln sich die Kommentierungen der so scheinbar unauffälligen und doch prägnanten Kanten, Brüche eben: Eigenwilligkeiten des Films:

Das Rauhe und Kantige des Materials spiegele sich in der Kantigkeit der Tonmischung. Auch das Hereinnehmen von „verwackelten“ Bildern, gleichsam als Übersetzung des den Film durchzitternden Schreckens/ durchbreche das Normalübliche. Als ebenso lustig wie passend wird die Untermalung der mecklenburgerischen Landschaft durch japanische Musik beurteilt. Pikant bis genial findet man die Ablösung der Transparenz, ia beinahe durchsichtigen Transzendenz der Landschaftbilder durch die Konkretheit einer Hagebutte oder schwarzen Amsel im Weiß des Schnees. Eine gelungene Topographie des verborgenen Grauens! So vergeblich wie hartnäckig befragt wird von Ruzicka die radikale Sprachhaltung des Kommentars zwischen Pointierung, Reflexion und nüchterner Berichterstattung. Und: Ein Video ist ein Video ist ein Video.

Voigt findet es blöd, daß Leute mit einem Video dasselbe machen wie mit einem Film. Ein den Beitrag auch aus rein technischen Gründen genossen haben der Zuschauer, bestätigt das vor zehn oder selbst vier Jahren noch nicht möglich gewesene Videospezifikum des Films. Gegen eine reflexive Sprachhaltung will sich der Regisseur verwahren. Er sei um möglichste Wertneutralität bemüht gewesen; natürlich enthalte der Kommentar Pointierungen. Ruzicka, wiewohl auf der Kühnheit der Sprachbilder und ihrem historisch wertenden und reflexiven Charakter bestehend, gibt sich geschlagen – und versucht es auf einer anderen Ebene: Der formal wie inhaltlich radikale Grundton des Films. der schließlich von unter dem Weiß der Landschaft verborgenen Massengräbern erzählt, präsentiere eine Exhumierung im Sinne des Worts und damit eine neue Zugangsmöglichkeit zur Geschichte. Ob Voigts Film auch Ergebnis einer persönlichen – er entschuldigt das inflationäre Wort – Vergangenheitsbewältigung sei? Ja, zu DDR-Zeiten wäre dem Regisseur eine solch pure, harte Abrechnung nicht möglich gewesen.

Ein Zuschauer meint hierin einen vielleicht typisch deutschen Umgang mit Geschichte zu sehen, was Ruzicka sehr bedenkenswert findet. Geschichtspessimismus? Historismus?

Ausschlaggebend für Voigt war, und dies die zweite schöne Begründung der heimatkundlichen Texteinlagen:

Das absurd Normale von Scheußlichkeiten. Die Absurdität des Normalen. Auf der einen Seite: „Waldschnepfe, Bekassinen, Teichrohrsänger, aber auch Wiesenpieper, Schilfrohrsänger.“ Das fraglose Blühen der Landschaft. Auf der anderen Seite der Abgrund unter tausend Sternen, das eherne Gesetz menschlicher Verhältnisse, die scheinbar zwangsläufig ihren Weg immer wieder ins nackte Grauen bohnen. Die Grausamkeit des Selbstverständlichen. Das Selbstverständliche des Grausamen. Zynisch? Nein normal. Das ist so!

DER ORT. DIE ZEIT. DER TOD.

EIN.SICHT.AUS.