Protokoll
Wer ist Schaja?
oder:
Was geschah in Baby Jar?
Den größeren Teil der Diskussion bestritt Alexander Rodnyansky mit Erläuterungen der historischen Hintergründe seines Films, zumal diese vom Publikum intensiv nachgefragt wurden – eine „Lektion auch in deutscher Geschichte“ sollte Klaus Kreimeier das später nennen.
Da war die Figur des im Film gesuchten, zuletzt jedoch nicht gefundenen „Schaja“: Eine fiktive Person, erläuterte Rodnyansky, Sammelpunkt für in GOOD-BYE UDSSR verfolgte Probleme und Themen. Das Massaker von Baby Jar – ein Name, der vielen Zuschauern zugegebenermaßen nicht geläufig war – sei auch in der Sowjetunion weitgehend unbekannt, aus der offiziellen Geschichtsschreibung gestrichen, erklärte der Regisseur: Es habe sich hier um eine erste Aktion der die Ukraine besetzenden Nazis gehandelt, um eine Probe für die massive Vernichtung der Juden im Jahre 1941, der später noch über 100.000 Menschen zum Opfer fallen sollten. Baby Jar (ein Bezirk der Stadt Kiew) stehe im Zentrum seines Films auch als Beispiel des sowjetischen Umgangs mit der Vergangenheit: In der Zeit eines hochaufschießenden Antisemitismus habe man versucht, den Ort dieses Massakers „auszuwaschen“, in einen Erholungspark zu transformieren. Dabei sei es dann zu dem im Film gezeigten, im Zusammenhang überstürzter politischer Entscheidungen bezeichnenden Dammbruch gekommen; noch 20 Jahre nach dem Massaker wurden diejenigen verfolgt, die an den Jahrestag erinnern wollten. Jüdische Geschichte sei mit einem Redeverbot belegt gewesen, sie zum Gegenstand öffentlicher Diskussion machen zu wollen insofern stets ein „Symbol des Andersdenkens“.
In diesem Sinne wollte der Regisseur seinen Film auch nicht auf die Darstellung einer spezifisch jüdischen Problematik beschränkt verstanden wissen: GOOD-BYE UDSSR spiegele anhand der Chronik einer Familie sowohl die viel allgemeinere Diskriminierung und Bedrängnis verschiedenster Nationalitäten innerhalb der Sowjetunion, als auch den schwierigen Umgang mit der Vergangenheit. Der Film wolle, so Rodnyansky weiter, den Oberlebenskampf der Menschen, ihre konfliktreiche Identitätsstiftung angesichts zerbrochener Bindungen zeigen. In der Situation der Unterdrückung habe sich ein System menschlicher Beziehungen ausgebildet, das nun im Zerfall begriffen sei – obschon neuem (nationalistischem) Druck, politischen Hysterien ausgesetzt. Den Begriffen der Bedrohtheit, besonders aber des Abschieds, mit denen Kreimeier die Diskussion eröffnet hatte, hielt Rodnyansky entgegen, GOOD-BYE UDSSR sei kein Film Ober Emigration, über die Suche eher denn über einen Abschied: Suche nach neuen politischen und sozialen Identifikationsmöglichkeiten in einem Land, dem sich die eigene Lebensgeschichte untrennbar verbunden weiß. Den konfliktreichen Umgang dieser Menschen mit Geschichte und gegenwärtiger Situation beschrieb Rodnyansky in diesem Sinne als Widerspruch „zwischen dem Mutterland und dem Land der Väter“.
Gegen Ende des Gesprächs mahnte Werner Ružička, der diesem Film ein Gefühl der Hoffnung entnahm („daß die komische Gattung Mensch doch einen Sinn haben kann“…) vehement eine ästhetische Würdigung von GOOD-BYE UDSSR an. Den Film nur als Ersatz für die vertiefende Lektüre von Buch und Zeitung zu benutzen, falle nicht nur hinter das Niveau dieser Arbeit, sondern auch das der übrigen Diskussionen zurück. Irina Knochenhauer (durch Ružičkas vorgängiges Zitat – „orchestral“ – auf eine Musik-Metaphorik verpflichtet) beschrieb GOOO-BYE UDSSR als „polyphones Stück“ in seiner kontinuierlich gleichberechtigten Verarbeitung unterschiedlicher Themen. Die Komplexität der Verflechtung verschiedener Zeitebenen, aber auch (in der Kombination unterschiedlicher Materialien) dokumentarischer und poetischer Strukturen hob, Klaus Kreimeier hervor. Darauf der Regisseur: Die Kunst des Dokumentarfilms sei in der UdSSR hoch kultiviert worden, und: „Wir lieben keine Informationsfilme!“
Lobende Erwähnung fanden neben dem listellenweise schon literarischen Kommentar (Rodnyansky: „Der ist im Original noch viel schöner!“) auch die Großaufnahmen der Gesichter – für den Regisseur Landschaften durchlittener Geschichte. Mit Werner Ružičkas Bemerkung, GOOD-BYE UDSSR fülle ein „ästhetisches Vakuum“ innerhalb eines Festivalprogramms zusehends spartanischer Filme, schloß die Diskussion.