Protokoll
Bevor die Diskussion über seinen Film beginnen konnte, bat Thomas Mitscherlich das Auditorium um Gehör in einer anderen Sache. Am Abend zuvor war es während der Podiumsdiskussion zwischen Oberstadtdirektor Jürgen Linde aus Gelsenkirchen und Mitscherlich zu einer Auseinandersetzung gekommen. Letzterer hatte stellvertretend für die in Duisburg anwesenden Filmemacher, Linde aufgefordert, die Drehgenehmigung für das Filmprojekt „Romeo und Julia“ zu erteilen. Diesem Ersuchen war von Seiten Lindes trotz mehrmaligen Versuchen ihm sein willkürliches, undemokratisches Verhalten klar zu machen, nicht stattgegeben worden. Daraufhin verfaßten die Filmemacher eine Resolution, um die Öffentlichkeit über den Verstoß gegen ein grundgesetzlich verbürgtes Recht zu informieren. Den Wortlaut der Resolution d.h., die Position der Filmemacher, stellte Mitscherlich dem Diskussionskreis vorab zur Diskussion. Nach Abwägen der Vor und Nachteile einer Publizierung (Hans- Joachim Bergmann: „Das ist eine langweilige Resolution.“ / Michael Kwella: “Welchen Effekt soll so eine zahme Resolution haben?“ / Werner Ruzicka: „Es erinnert an alte Zeiten. Ich habe aber Zweifel einen partikularen Fall so hoch zu spielen.“) einigte man sich schließlich den verlesenen Text zu akzeptieren und die Presse zu informieren. Detaildiskussionen wurden bis zu der für Samstag angekündigten Podiumsdiskussion aufgeschoben.
Brigitte Krause leitete die Diskussion zu Mitscherlichs Film ein. Sie habe ein Unbehagen verspürt, wenn Mitscherlich seinen ironisch-humoristischen Sprachgestus mit Bildern konfrontiere, die nicht aus seiner eigenen Erfahrung stammten. Er wage sich zu weit vor, wenn er Dokumentaraufnahmen von Leichenbergen mit einem lockeren, saloppen Ton koppele. Mitscherlich zeigte Verständnis für diese Bedenken, doch akzeptierte er sie nicht. Der Einwand erinnere ihn an Adornos vielzitiertes Diktum, nach Auschwitz seien keine Gedichte mehr möglich. Die Form der Zuspitzung, die er in dem Film praktiziere, sei seine Art die Scham Deutscher zu sein, zu verarbeiten. Darin läge für ihn die noch mögliche Reaktion auf deutsche Realität und die Chance der „Öffnung zur Eröffnung“.
Ein Zuhörer formulierte zunächst seinen positiven Gesamteindruck, bedauerte jedoch, daß Mitscherlich am Schluß über seinen Triumphiere, wo doch der Dialog weitergeführt werden müsse. Mitscherlich wies ihn zunächst auf die realen Fakten hin. Er sei bis zum Tod des Vaters in dessen Nähe gewesen, während heute 94 % der alten Menschen eines natürlichen Todes im Krankenhaus stürben. Er habe bis zum Ende im Gespräch mit seinem Vater gestanden und wenn in dem Film der Eindruck entstehe, der Vater stimme dem Theorem, Väter schicken ihre Söhne in den Krieg nicht zu, so läge das an dem fortgeschrittenen Stadium von dessen Krankheit. Sein Zustand habe ihm längere Artikulationen zunehmend erschwert. Der Eindruck, er habe einen Sieg über seinen Vater errungen, hielt Mitscherlich für eine Interpretationsfrage. Er habe sich selbst thematisiert und wolle andere dazu auffordern, ihr eigenes Verhältnis zu den Eltern zu überdenken. Der gleiche Zuschauer insistierte jedoch weiter auf Mitscherlichs persönlichem Verhältnis zu seinem Vater: Ob er, so seine Frage, in dieser privaten -intimen Geschichte, die Angst vor einer mächtigen Vaterinstanz habe vermitteln wollen. Mitscherlich erläuterte, ihm sei es über das Persönlichehinaus daran gelegen, klar zu machen, daß das konfliktreiche Vater-Sohn Verhältnis viele Belege in unserer christlich-jüdischen Kulturgeschichte habe. Die Söhne würden durch die Väter gemordet. Die psychoanalytische Theorie thematisiere im Ödipuskomplex zwar das umgekehrte Verhältnis, doch habe Freud in einem bisher nur von Eisler rezipierten Nachtrag, von einem Traum berichtet, in dem der Vater den Sohn erschlägt. Für Mitscherlich ein weiterer Hinweis darauf, daß alte Männer über Krieg und Frieden entscheiden, nicht Junge.
Angela Haardt leitete von dem kulturgeschichtlichen Exkurs über zur politischen Ebene des Filmes. Sie äußerte den Verdacht, daß Mitscherlich sein politisches Verhalten in der Studentenbewegung auf seine Kindheitssozialisation zurückführe und damit vereinfache. Dieser wies den Vorwurf zurück. Haardt vermische zwei Dinge miteinander, • Zum einen habe gerade er nun einen Vater, den er nicht mit Vorwürfen zu seinem Verhalten während des Nationalsozialismus habe angreifen können. Zum anderen gäbe es natürlich Vorwürfe im innerpsychischen Bereich. Mitscherlichs Verhalten 1968 sei indes nicht die Verarbeitung familiärer Schuldzusammenhänge gewesen. Da sei er für demokratische Verhältnisse eingetreten. Haardt bestritt die Möglichkeit einer Trennung.
Die Diskussionslinie des Verhältnisses von öffentlich und privat führte ein anderer Diskutant weiter, der Mitscherlich den Mißbrauch · historischer Bilder (Vietnamkrieg) zur Darstellung des persönlichen Elends (Vater-Sohn Krieg } vorwarf. Mitscherlich entgegnete, er habe keinen Film über den Vietnamkrieg oder den Nationalsozialismus machen wollen, sondern den Versuch unternommen, objektive und subjektive Welt zusammenzubringen. Der Film wiederholte er, sei seine persönliche, psychologische Bewältigung der Tatsache Deutscher zu sein. Dazu gehöre auch das „Nölen“ im Kleinen. Er habe Anstöße geben, Perspektiven eröffnen wollen, in der Auseinandersetzung der Dokumentarfilmer mit dem Verhältnis von Privatem und Öffentlichem.
Auf die Frage Werner Ruzickas, ob Mitscherlich die Rolle eines „geistigen Vaters“ der heutigen Generation akzeptieren könne (so wie Alexander Mitscherlich es für Teile der 68er Generation war) und, wenn ja, wo er in seinem Film Produktivität angelegt sehe, erschien Mitscherlich zu komplex für diesen Rahmen. Er versuchte sich trotzdem in einer Antwort. Die bisherigen Diskussionen zu seinem Film hätten ihm gezeigt, daß die jünger Generation nach Ansicht des Films den Generationskonflikt diskutiere. Alexander Mitscherlich sei für diese nicht mehr als eine öffentliche Figur und Keine Identifikationsfigur. Zum zweiten Teil der Frage meinte er, der Bruch mit einer Tradition des Dokumentarfilms, Spiel und Dokumentarmaterial zu mischen, sei Kalkül in der Tat. Er habe im artifiziellen Umgang mit dem Vater in ein Grenzgebiet vordringen wollen. Die Handlungsperspektive könne er hingegen auch nicht liefern, die müsse der Zuschauer selbst entwickeln.
Auf die Dokumentarfilmtradition zielte einer der letzten Beiträge. Man solle einmal überlegen, ob die bisherigen erfolqreichen Dokumentarfilme nicht nur deswegen Resonanz fanden, weil die Zuschauer sich selbst raushalten konnten. Mitscherlich habe nun versucht diese Verdrängung zu überwinden indem er den bisherigen geschichtsphilosophisch-, analytischen Zugriff auf Historie im selbstironischen, aphoristischen Zugriff (Kleide) und darin neue Perspektiven aufweise.
Dieser These konnte Thomas Mitscherlich (uneingeschränkt) zustimmen .