Film

Bei lebendigem Leibe – Erinnerung an Jörg Ratgeb
von Alfred Jungraithmayr
DE/AT 1984 | 100 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 8
06.11.1984

Diskussion
Podium: Alfred Jungraithmayr, Regine Heuser
Moderation: Angela Haardt, Edith Schmidt
Protokoll: Gerda Meuer

Protokoll

Wenn man in Anbetracht der späten Stunde und der kleinen Diskussionsrunde eher ein zähes Gespräch erwartet hatte, so mußte man seine Vorstellungen an der Wirklichkeit korrigieren: Lebhaft und ausdauernd hinterfragte das Auditorium Alfred Jungraithmayers Film, so daß der Autor und seine künstlerische Mitarbeiterin, Regine Heuser, sich oft in die Defensive gedrängt sahen.

Gleich zu Anfang erteilte Didi, ein Mitglied der Medienwerkstatt Freiburg, dem Film das Prädikat „Thema verfehlt“. Zu viele Geschichten habe man erzählen wollen, zu viele Stränge verfolgt und dabei den Menschen, den Maler Jörg Ratgeb aus dem Blick verloren. Die Kritik veranlaßte Jungraithmayr zu Ausführungen über die Entstehungsgeschichte des Films. Ausgangsbasis sei die Tatsache gewesen, daß Polen ein Wandbild des Künstlers Ratgeb im Kreuzgang des Frankfurter Karmeliterklosters restaurierten. Vermittels dieser Polen wollte man zunächst etwas von dem Maler der Kreuzgangszenen erfahren. Dann überrollten, laut Jungraithmayr, die politischen Ereignisse des Herbst 1983 das Filmteam, und zwangen zu einer Umgestaltung des ursprünglichen Konzepts. Die neue Fragestellung der Macher lautete jetzt: Wie gehen diese Polen hier in Deutschland mit der Tatsache um, daß in Polen selbst Kriegsrecht herrscht. Trotz dieser Schwerpunktverlagerung oder Politisierung habe man die Person Jörg Ratgeb nicht vernachlässigt. Die Fakten zu seiner Person seien genannt worden. Ergänzen könne man noch, daß 1974 ein Jörg-Ratge-Preis verliehen wurde. Jungraithmayr erwähnte dies im Film, da es nicht genug Relevanz besäße und nur zum Ausdruck brächte, daß Ratgeb als Künstler im Bewußtsein von Kunstschaffenden präsent sei.

Den Einwand Didis wiederaufgreifend fügte Regine Heuser, Mitarbeiterin des Autors hinzu, sie wolle dessen Erklärung noch erweitern. Die monierte Vielfältigkeit, Vielständigkeit des Films gründe nicht im Prinzip Zufall, sondern man habe bewußt diese Methode als dramarurgisches Mittel gewählt um Spannung zu erzeugen. Gleich einem Puzzle solle sich nach und nach die Botschaft des Films im Kopf der Rezipienten zusammensetzen. Als dann noch Edith Schmidt ähnlich argumentierend Partei für den Film ergriff und ihn „als ein Flechtwerk von Erinnerungsarbeit, daß eine Geschichte freilegt“ charakterisierte, sah sich Günter Dicks zu grundlegenden Bedenken veranlaßt. Freigelegt werde hier gar nichts, sondern er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, daß man den Aufnahmen Interpretationen aufpfropfe. Toni Weber präzisierte diesen Vorwurf, wenn er vermutete man habe nach politischen Polen gesucht, diese nicht gefunden und daraufhin bedeutungsschwangere Schweigebilder die Polen nachträglich politisiert. Zum Beispiel ergäbe die Szene in der das Filmteam per Zettel an der Windschutzscheide zu einem Treffen aufgefordert werde, der Verabredung einen konspiratives Gepräge. Der Kontext (es handelt sich um eine Verabredung mit Asylanten) vermittele diesen Eindruck, auch wenn der Zwischenfall der Realität entspräche. Das mache ihm den Film unsympathisch.

In eine ganz andere Richtung ging der Einwand eines Zuschauers, dem die Sprachproblematik eine der gewichtigsten schien. Da teilweise mit, teilweise ohne Dolmetscher gearbeitet werde, äußerte er Mißtrauen gegen diese spontane Vorgehensweise.

Jungraithmayr entgegnete ihm, komplizierte Sachverhalte habe man grundsätzlich mit Hilfe von Dolmetschern diskutiert, doch dabei auch feststellen müssen, daß nicht korrekt übersetzt worden wäre. Sein zum Beleg angeführtes Beispiel überzeugte jedoch das Auditorium nicht.

Diesen Diskussionsstrang verfolgte man nicht weiter und kam über den Beitrag eines Zuschauers, den der Film an seine Ohnmacht gegenüber der West-Ost-Blockbildung erinnerte, von der weltpolitischen Situation auf generelle Probleme politischer Filme zu sprechen. In diese Richtung tendierte die Kritik Angela Haardts, die anmerkte, daß das handwerkliche die Qualität des Films, während der politische Anspruch in den Fragen an die Polen nicht eingelöst werde, nur die Hilflosigkeit der Macher demonstriere. Sie bleiben beim ohnmächtigen Reden stehen. Jungraithmayr stimmte Haardt zu, stellte jedoch die Gegenfrage, ob er angesichts dessen die Kamera weglegen solle, wie einst Jörg Ratgeb seinen Pinsel.

Ein anderer Zuschauer wollte auch die handwerkliche Qualität des Films als solche nicht gelten lassen. Hier sah er genauso viel Hilflosigkeit und Unfähigkeit demonstriert, wie auf der politischen Ebene („Die Kamera wackelt die Treppe hinunter“). Mit einem Unterton von Aggressivität beharrten sowohl Heuser als auch Jungraithmayr auf dem Realitätscharakter der bisher kritisierten Szenen und erhielten massive Unterstützung von Edith Schmidt, die die Inhalte der kritischen Bemerkungen zu den Filmen in eine Kritik an den Diskutanten und Zuschauern umfunktionierte. Immer erwarte man von Dokumentarfilmen Aufklärung, verschließe sich neuen filmischen Methoden, sei nicht offen für neue Sehweisen, die dieser Film in seiner Collageform, seiner diffizilen Montage doch provoziere. Ihr Urteil lautete zusammengefaßt: Dieser assoziationsreiche Film fordere geradezu die assoziative Mitarbeit der Zuschauer.

Eben diese als Argument ins Feld geführte Offenheit sah Günther Dicks nicht gegeben. Vielmehr sei das Vorgehen der Macher doch oft sehr suggestiv. (z.B. die Interviews mit Polen). Zum anderen habe man oft auf das hier in den Medien vermittelte Bild von den politischen Verhältnissen in Polen vertraut, wenn man Bilder anbot, die nach einer diesbezüglichen Auffüllung verlangten. Erneut auf die Struktur des Films kam ein anderer Zuschauer zu sprechen. Er sah zwei sich widersprechende Strukturprinzipien verwirklicht. Zum einen gäbe es eine rein „dokumentarische Ebene“, zum anderen eine, die dazu auffordere, assoziativ zu arbeiten. Das erschwere die Rezeption erheblich. Auf ähnliches sprach auch Michael Kwella in seinem Beitrag an. Der Film schränke die Assoziationen der Zuschauer ein, statt welche hervorzurufen. Durch den ständigen Wechsel des Erzählprinzips werde der Film unzusammenhängend. Seine Kritik fand Unterstützung in der Beobachtung einer Zuschauerin, die in dem Film einen über das Handwerk des Restaurierens gesehen hatte. Als Metapher für Erinnerungsarbeit trage das Erzählprinzip nicht.

Mit einem letzten Einwand wandte sich Didi noch einmal an die Filmemacher. Man habe eine Chance verschenkt, die intendierte Spurensuche, das Aufweisen von Formen des Widerstands über einen Zeitraum von 500 Jahren gelänge nicht, die intendierten politischen Ansprüche könne die ästhetische Form nicht einlösen. Der Ausdruck von Widerstand, der sich in religiösen Bildern des Mittelalters zeige wäre ein Anknüpfungspunkt für eine Linie bis zum polnischen Widerstand von 1983 gewesen. Diese Verbindung werde jedoch im Film nicht hergestellt. Ebenso fehle, so sein abschließendes Urteil, jeglicher Zusammenhang zwischen Jörg Ratgeb, den polnischen Restaurateuren und den Widerstandsformen in Mutlangen.