Film

Mein Tagebuch II
von Heinrich Breloer
DE 1980 | 45 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 4
21.09.1980

Diskussion
Podium: Heinrich Breloer
Moderation: Heinz Trenczak
Protokoll: Angela Haardt

Protokoll

Schwerpunkte:
Fragen zu den Personen im Film
Entstehungs- und Produktionsgeschichte
Die Haltung des Filmemachers zum Stoff und in der Sendeanstalt

Das Gespräch war von Fragen des Publikums und ausführlichen Antworten Heinrich Breloers bestimmt.

Frage: Worauf beruhte die Diskriminierung des ersten Interviewpartners in der Schule?
H. B.: Die Schikanen leiteten sich aus seiner Unfähigkeit zu singen her, hatten ihre Ursachen aber in seiner Unangepaßtheit, seiner Andersartigkeit, die dem nationalsozialistischen Lehrer ein Dorn im Auge gewesen sein muß. Zu dieser Passsage ist häufig irrig vermutet worden, der Interviewpartner sei Jude, weil er ein Käppchen auf dem Kopf trage. Es gehört jedoch zu seiner Art, sich zu kleiden. Ich habe oft erlebt, daß Menschen, die Widerstand geleistet haben, Zeichen ihrer Auflehnung bis heute beibehalten.
Frage: Wie kam der zweite Mann schon mit 15 Jahren zu so klar formuliertem Abscheu gegen den Nationalsozialismus?
H. B.: Sein Vater hatte ihm in Bilderbüchern all die kleinen Nazis gezeigt, hatte ihn durch die Lektüre von „Im Westen nichts Neues” geschult. Außerdem war der Junge wütend, auf einem engen Dachboden versteckt leben zu müssen und härte dort den „Feindfunk”. Auf dem Dachboden entwickelte er die Lust zum Schreiben, auch zur Selbststilisierung nach Vorbildern (Thomas Mann und Rundfunk). „Manchmal bricht dann Wahrheit aus, und er steht plötzlich vor sich selbst”. Nach dem Krieg wurde er Reporter, auch er blieb unangepaßt, (heiratete eine Jüdin).
Frage: Wie sind Sie an die Tagebücher gekommen?
H. B.: Über den Rundfunk stellte ich mein Vorhaben dar und bat, mir Tagebücher zu schicken. 1.000 Briefe erhielt ich. Mir wurde klar, welch ungeheures Material, wieviel Geschichte in dieser Republik aufbewahrt ist. Archive in Koblenz und München, auch Historiker waren daran interessiert, wollten alles haben -zu lange haben sie die Sammlung der privaten Geschichte vernachlässigt. Es gibt sicherlich noch viel mehr. Ich will das Projekt weitertreiben bis in die Gegenwart hinein, damit Eltern etwas über die Tagebücher ihrer Kinder erfahren, wie hier Kinder über die Tagebücher ihrer Eltern, die sie nie gelesen haben, etwas aus dem Leben ihrer Eltern erfahren. Wenn es unsere Aufgabe beim Fernsehen ist, Vermittler zu sein, kann das hier sinnvoll als Vermittlung zwischen den Generationen geschehen.
Mein Interesse war, etwas über diese Zeit zu erfahren, über die ich persönlich nie etwas erfahren konnte, weil mir nahe Menschen nicht darüber sprechen.

Ich hatte zuerst den Auftrag, ein bis zwei Filme als Feature über Tagebücher zu machen.
Nachdem ich das Material gelesen hatte, wählte ich verschiedene Personen aus und fuhr auf Interviewreise, um mit diesen Personen über bestimmte Stellen in ihren Tagebüchern zu sprechen. Als ich zurückkam, hatte ich Material für flinf Filme, das ich den Redakteuren am Schneidetisch zeigte. Ich konnte sie überzeugen, daß sich die Filme lohnen würden. Ihre Bedingung war, daß wenigstens 10 Personen vorkommen sollten.
Es gelang dann auch, notwendige zusätzliche Dreharbeiten genehmigen zu lassen. Historisches Material habe ich im Bundesarchiv in Koblenz ausgewählt und als Folie dazumontiert, um für alle, die diese Jahre nicht selbst erlebt haben, einen Teil der Stimmung und Aura dieser Jahre zu rekonstruieren, um z. B. zu zeigen, wie der Junge damals gegen das Gebrüll anleben mußte oder wie selbstverständlich damals geschossen wurde (in dem Abschnitt, in dem ein Tagebuchschreiber von der Ermordung einer Partisan in spricht). Spielfilmelemente habe ich benutzt, um bestimmte Vorgänge erfahrbar zu machen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Lebensmittelmarken damals gefälscht werden konnten.
Den Abschnitt aus „Draußen vor der Tür” habe ich wegen des tiefen Eindrucks, den dieses Stück auf mich damals machte, einbezogen; allerdings in der kargen NDRInszenierung -ein positives Beispiel der damaligen Frühzeit im NDR, als das Fernsehspiel initiiert wurde.
Frage: Wie haben die Tagebuchschreiber auf Ihr Interesse reagiert?
H. B.: Sie waren sehr einverstanden mit der Veröffentlichung. Es scheint so eine Welle zu sein eine Altersradikalität, eine Lebensgrenze ist überschritten, jetzt kann man über die 40er Jahre reden.
Die meisten wollen, daß etwas Gutes entsteht. Man muß nur ein persönliches Verhältnis herstellen können, ein gutes Vertrauensverhältnis aufbauen und täglich daran arbeiten, damit sie wissen, daß sie nicht hereinfallen.
Ich habe ein wirkliches Interesse an den Menschen -eine Art echte liebevolle Neugier. Ich nehme die Menschen ernst, die einen Schatz an Erfahrung haben. Ich stelle mir bildlich genau vor, was sie erzählen. Eine erste Frage gibt so viele neue.
Frage: Warum sind Interviews so häufig schlecht?
H. B.: Meist handelt es sich um Auftragsinterviews, wobei die behandelten Probleme den Interviewer nichts angehen. Die Fragen werden heruntergespult, die Antworten entsprechend immer dürrer.
Frage: Wie sind die Arbeitsmöglichkeiten in der Fernsehanstalt?
H. B.: Meine Produktionsbedingungen sind nicht schlecht. Das Problem allgemein ist, daß nicht mehr wie früher die Fachleute, sondern übergeordnete Personen entscheiden, Repräsentanten, die vom Fach wenig verstehen. Wenn ich dort arbeite, kann ich allein nicht die Gesamtsituation verändern. Ich will wissen, was jetzt möglich ist. Interessieren sich Mitarbeiter für ein Projekt, dann setzen sie sich ein, dann kann man auch mit einem Team drehen, dann kann man im Gespräch auch Vorurteile abbauen.

Andere Gesprächsteilnehmer meinten ergänzend:
– Freie Filmemacher glauben manchmal, sie seien die Einzigen, die es schwer haben. Sie meinen, der Redakteur müsse ihnen den Weg ebnen, gelingt das nicht gleich oder vollständig, wenden sie sich ab oder sind sauer.
– Fernsehanstalten setzen sich aus vielen Menschen zusammen, mit ihnen zu arbeiten, ist wichtig. Es sollten Redakteure hier sein, um sich neue Leute zu suchen. Allerdings lief ein solcher Versuch schief mit den Gorleben-Filmemachern.