Film

Slet 1988
von Marta Popivoda
DE/FR/RS 2025 | 22 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 49
08.11.2025

Diskussion
Podium: Marta Popivoda
Moderation: Ute Adamczewski
Protokoll: Caroline Schöbi

Synopse

Die 74-jährige Tänzerin Sonja Vukićević bewegt sich durch sozialistisch-modernistische Räume; ihr Körper ist ein Archiv der letzten Massenperformance in Jugoslawien. Ihre Gesten spiegeln vergangene Rhythmen und gegenwärtige Realitäten wider. Sie verflechten sich mit dem Tagebuch einer Teenagerin aus dem Jahr 1988 und offenbaren den Wandel vom sozialistischen Kollektivismus zum aufkommenden Individualismus – während sich ein neues nationales Kollektiv einschleicht, das die Zukunft des Landes bald prägen wird.

Protokoll

Es sei bemerkenswert, wie der Film von Hoffnung und Verzweiflung zugleich erzähle, steigt Ute Adamczewski in das Gespräch ein, das heute über Zoom geführt wird. Marta Popivoda hätte wirklich eindrucksvolle Bilder gefunden, um diesen historischen Moment in der jugoslawischen Geschichte – den politischen und ideologischen Übergang von sozialistischem Kollektivismus zum Individualismus – greifbar zu machen. Wie die Filmemacherin auf dieses Material gestoßen sei, möchte die Moderatorin wissen.

Was ihre filmische Arbeit betrifft, begleite sie sowohl das Thema der Ideologie als auch die Praxis der künstlerischen Forschung schon länger – in ihren ersten beiden Filmen YUGOSLAVIA, HOW IDEOLOGY MOVED OUR COLLECTIVE BODY (2013) und LANDSCAPES OF RESISTANCE (2021) ist einiges schon angelegt, erzählt Popivoda. Auch das Archivmaterial der letzten SLET, um die es im Film geht, hätte sie im Zusammenhang mit einer früheren Filmarbeit entdeckt – ein Glücksfall, denn zunächst fand Popivoda nicht, wonach sie suchte. Es handelte sich jedoch nicht um Aufnahmen der Massenaufführung selbst, sondern um Material einer Probe.

Auch sie hätte die Wirkung der Bilder verblüfft – die Bewegung vom kollektiven zum individuellen Körper. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Massenaufführungen, die im sozialistischen Jugoslawien jeweils zum „Tag der Jugend“ veranstaltet wurden, wäre ein einzelner Körper – die Tänzerin Sonja Vukićević – aus der Masse herausgehoben worden. Nicht nur diesbezüglich habe sich die letzte Slet – wörtlich übersetzt „Vogelschwarm“, aber auch der Begriff für diese Massenveranstaltung – im Jahr 1988 stark von den anderen unterschied: Da das Interesse am Ereignis zu diesem Zeitpunkt gering war, habe man versucht, die Choreografie zu modernisieren. Was schließlich aufgeführt wurde, so die Filmemacherin, wäre mehr künstlerische Tanzperformance als traditionelle Slet gewesen – in seiner Wirkung Abschied vom sozialistischen Staat und Antizipation von etwas Kommendem zugleich. Später im Gespräch beschreibt Popivoda, dass sie sich ausgehend von den Spuren dieses Ereignisses für die Spannung zwischen Geschichte und Erinnerung interessiert habe. Zudem – das würden die Aufnahmen von Novi Beograd zeigen – frage sie in ihrem Film nach dem Jetzt eines kollektiven Körpers. Ob dieser räumlich überleben konnte, knüpft Adamczewski an den Gedanken an. Ja, entgegnet die Regisseurin: Der Schluss des Filmes, die vielen Glitches in den Archivaufnahmen, würde den fragenden Ton akzentuieren: Wo ist er jetzt? Wo finden wir die Spuren dieses Körpers? Ein Kurzfilm würde nicht ausreichen, um diese Themen und Fragen zu verhandeln. SLET 1988 sei das Prequel. Ein Langfilm, den sie hoffentlich bald fertigstellen könne, wäre in Arbeit. Neben den sehr greifbaren Glitches im Filmmaterial, spricht Popivoda auch von einem historischen Glitch – ein Moment, der zeigt, dass eine andere Zukunft möglich gewesen wäre. Das Material wurde nicht bearbeitet, betont die Filmemacherin: Sie habe mit den Geistern der Archive arbeiten wollen.

Aus dem Auditorium wird nach der Textebene, den vorgelesenen Tagebucheinträgen gefragt. Ob das Gehörte fiktional, oder wie das Bildmaterial ein Archivfund sei, will jemand wissen. Es sei ein kollagierter Text, der auf den Tagebüchern von ihr selbst und anderen am Film Beteiligten beruhe – also ja, ebenfalls Archivmaterialen. Beim Lesen wäre sie erstaunt gewesen, wie viel sie über Politik geschrieben hätten. Zum Beispiel hieß es an einer Stelle im Tagebuch „Milošević ist ein Faschist“ – keine Zuschauer:in hätte geglaubt, dass ein Kind sowas schreibt. Deshalb habe sie den Satz leicht abgeändert.

Adamczewski nimmt Bezug auf die zeitgenössischen Aufnahmen der 74-jährigen Tänzerin Sonja Vukićević. Nahaufnahmen eines Körpers in Bewegung, Haut, Muskeln, Venen, die durch die Haut durchscheinen; Stimmige Bilder, wie Adamczewski findet. Wie sie die Tänzerin gefunden habe und wie die Zusammenarbeit funktionierte, fragt die Moderatorin.

Sie hätten sich bereits gekannt, führt Popivoda aus. Das Gymnastikstudio, in dem Vukićević im Film trainiert, sehe noch immer genau so aus wie in den 1980er Jahren. Das hätte sie interessiert. Sonja Vukićevićs Körper als Archiv zu denken und sich den Erinnerungen über Bewegungen anzunähern – Bewegungen, Choreografien, die sich in den Körper einer Tänzerin eingeschrieben hätten. Zudem wäre sie an einem haptischen Bild interessiert gewesen – das Bild einer alternden Frau auf großer Leinwand zu sehen, dem Körper filmisch nahezukommen, das wäre ihr wichtig gewesen.

Die Filmemacherin erzählt, dass die Zusammenarbeit mit Sonja Vukićević im neuen Projekt eine Fortführung finden würde. Gemeinsam mit einer Choreografin hätte Popivoda versucht, aus der Gegenwart heraus einen kollektiven Körper zu imaginieren, der sich öffentlichen Raum aneignen würde. Die Frage, wie ein solcher Körper aussehen könnte, hätte viel mit einem Queeren von Archiven, einem spekulativen und fabulierenden Ansatz zu tun, beschreibt die Filmemacherin. Und ja, Sonja Vukićević würde in diesem Film wieder tanzen, beantwortet Popivoda die Frage einer Person aus dem Publikum – die sich sichtlich über diese Aussichten freut.