Film

Oben im Eck – Holger Hiller
von Janine Jembere
DE 2011 | 34 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 36
09.11.2012

Diskussion
Podium: Janine Jembere, Holger Hiller (Protagonist)
Moderation: Susanne Quester
Protokoll: Christian Koch

Synopse

Hiller zwischen Kunsthochschule und Palais Schaumburg, Hausaufgaben mit dem Sohn und Zeitarbeit mit Mitte Vierzig. Wie in seinem Video „Ohi Ho Bang Bang“ macht erst der Schnitt die Musik. „Das Territorium, auf dem wir uns befinden, und die Karte, die wir uns davon machen, sind nie genau gleich.“

Protokoll

Susanne Quester ruft zu Beginn der Diskussion die „Verfolgungsjagd“ ins Gedächtnis, die sich die Kamera am Anfang des Films mit dem Protagonisten am Berliner Hauptbahnhof liefere. Wer da eigentlich wen verfolge? Am Ende der Szene schaue Hiller aus ihrer Sicht triumphierend, so als habe er die Kamera gefangen und nicht umgekehrt. Janine Jembere will die Eingangssequenz eher als Eröffnung eines Spiels verstanden wissen, das analog zu einer fortgesetzten Begegnung zwischen zwei Menschen (nämlich ihr und Holger Hiller) verlaufe, die vor Anfang des Films begonnen habe und über sein Ende hinausreiche. Es habe nicht in ihrem Interesse gelegen, ein konsistentes Portrait zu liefern, und das habe sie gleich mit dieser Eingangsszene klar machen wollen.

Das wesentliche strukturierende Mittel der Regisseurin, die auch als Cutterin arbeitet, ist die parallele Handhabung der Montage von Bild und Ton. So wie Hillers Musik mit der assoziativen Collage von gefundenen und selbst komponierten Motiven operiere, habe Jembere auch „musikalisch“ mit dem Bildmaterial umgehen wollen. Das ist eine Technik, die ja auch schon in den Musikvideos aus Hillers privatem Archiv exzessive Verwendung findet. Die Szenen von den Proben seines neuen Bandprojekts sowie die „improvisierten Gespräche“ über die auf einem Tisch zusammengelegten und von dort abgefilmten Archivfotos sind die Fäden, die das Videomaterial aus Hillers Sammlung assoziativ zusammennähen.

Hinzu kommt der von Hiller stammende und von ihm selbst aus dem Off eingesprochene, autobiographisch-essayistische Text, der von Jembere – wieder im Sinne von Hillers eigener Montagetechnik – zerlegt, gekürzt und neu zu den Bildern in Beziehung gesetzt wurde. Hiller gibt zu, dass er zunächst irritiert davon gewesen sei, dass die Regisseurin etwa die politischen Kontexte, in denen der Text stehe, nur noch in Andeutungen habe gelten lassen. Aber schließlich habe er akzeptiert, dass dadurch, dass er ihr das Textmaterial übergeben habe, ihr auch das Recht übertragen worden sei, nach eigenen Regeln damit zu verfahren. Was sich hierdurch einstelle, so Quester im Einklang mit Stimmen aus dem Publikum, sei eine stimmige Parallelführung von Bild- und Tonmontage.

Im Verlauf der Diskussion rückt Hillers bewegte Biographie ins Zentrum, die der Film nur ausschnitthaft beleuchtet. Die Fragenden reiben sich an den bewussten Auslassungen. Dieter Fahrer etwa fehlt ein Anschluss an das abrupte Verschwinden des Sohnes aus dem biographischen Erzählstrang, schließlich habe ein Kind doch einen enormen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Lebens der Eltern. Hiller und Jembere verteidigen hingegen ihr Konzept, kein vollständiges, kausal begründetes Portrait liefern zu wollen. So kommen die Fragenden auch nicht bei dem Versuch weiter, mehr über die im Film angeschnittene, zu Anfang der nuller Jahre stattfindende Midlife-Crisis des mittlerweile 56-jährigen Hillers zu erfahren. Aus der hatte er sich – soviel wird im Film immerhin klar – nicht zuletzt vermittels der Wiederaufnahme seiner musikalischen Aktivitäten befreit.

Trotzdem zeigt sich das Publikum von der Weigerung des Films, eine konsistente, umfassendere Lebensgeschichte anzubieten, keineswegs frustriert. Die sorgfältige Rhythmisierung der Bildfolgen, der Sprünge des Texts, sorgten durchaus dafür, dass beim Zuschauer viel hängen bliebe, so eine Zuschauerin. Ein anderer Kommentator bekennt, dass er durch den Film sehr neugierig auf die neue Musik Hillers geworden sei, und diese Neugier dann durch den Verzicht auf Live-Material vom Konzert in Paris, das gegen Ende des Films nur noch mit der Begrüßung des Publikums gezeigt wird, nicht befriedigt worden sei. Diese Enttäuschung kann aber nicht lang vorgehalten haben, schließlich geht es im Anschluss an die Diskussion ins Grammatikoff, wo Protagonist und Regisseurin bei einem Live-Konzert ihre Strategie der „Überforderung“ (Jembere) auf dem Sektor der Musik fortsetzen.