Film

Zimmerwald
von Valeria Stucki
CH 2023 | 66 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 47
9.11.2023

Diskussion
Podium: Valeria Stucki
Moderation: Ute Adamczewski
Protokoll: Mark Stöhr

Synopse

Ein Sommergoldhähnchen hebt zum Gesang an in einem Wald, in dem die Geschichte verstummt ist. Einst wurde er von einer exzentrischen Reisegruppe durchquert, darunter Lenin und Trotzki, allesamt als Ornithologen getarnt. Ihr Ziel war die Schweizer Gemeinde Zimmerwald, wo sie 1915 die Kommunistische Internationale ausriefen. Über 100 Jahre später suchen Schüler:innen nach Spuren des berühmten Konvents und navigieren durch ein Dorf, das kein Wallfahrtsort sein will und sich im toten Winkel der Welt eingerichtet hat.

Protokoll

Lenin und Trotzki, die als Vogelkundler durch das Berner Oberland reiten – kann das sein? Ein Schweizer Bergdorf, in dem kommunistische Weltgeschichte geschrieben wurde – really? Einige Zuschauer:innen verließen das Kino mit einem Spielfilmgefühl und konfrontierten Regisseurin Valeria Stucki anschließend mit ihren Zweifeln. Ein geradezu ironischer Move, denn über Jahrzehnte hat Zimmerwald alles getan, um sämtliche Erinnerungen an die legendäre Konferenz 1915 aus dem Gemeindebild zu löschen. Die konsequente Enteignung dieses Teils der Dorfhistorie war offenbar so erfolgreich, dass nun der Versuch einer Rekonstruktion, den „Zimmerwald“ unternimmt, prompt unter Fake-Verdacht gerät.

Aber: Die Geschichte ist wahr. Also im Großen und Ganzen. „Geschichte ist etwas, das konstruiert ist“, sagt Stucki und weist daraufhin, dass es von der Zimmerwald-Konferenz verschiedene Narrative gäbe. Im sowjetischen Russland hätte sie den Status eines Mythos gehabt, mit allen Ein- und Umschreibungen, die damit verbunden seien. In der Schweiz selbst sei diese historische Episode wenig bekannt und beispielsweise auch kein Thema im Geschichtsunterricht. „Ich bin mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass die Geschichte an der Grenze aufhört“, erzählt sie. Ihr Heimatdorf befinde sich ganz in der Nähe von Zimmerwald, eher durch Zufall habe sie von dem Lenin-Konvent erfahren und sei daraufhin in die Recherche eingestiegen.

Moderatorin Ute Adamczewski spricht die „Stellvertreter:innen“ im Film an – also die Schülerinnen und Schüler, die sich in Zimmerwald auf Spurensuche begeben und Interviews mit Bewohner:innen führen. Warum diese Konstruktion? Und gab es ein Drehbuch? „Durch die Jugendlichen“, antwortet Stucki, „gibt es die Möglichkeit, die Unmöglichkeit zu durchbrechen.“ Sie brächten Bewegung in die „Fassadenhaftigkeit“ des Ortes und dessen Umgang mit der Geschichte. In Workshops hätten sie das Thema und die Fragen gemeinsam erarbeitet. Die Interviews selbst seien aber nicht gescriptet, sondern frei geführt gewesen.

„Cinema indirect“ nennt die Regisseurin ihre Methode. Die Recherche, die sie im Vorfeld gemacht hat, wird von ihren Protagonist:innen noch einmal nachvollzogen und mit der Kamera dokumentarisch begleitet. Sei mit dieser Methode, klinkt sich Adamczewski ein, nicht ein „großer Verzicht“ verbunden. „Die Kinder sind inszeniert, die Erwachsenen dagegen authentisch und mit Abwehr beschäftigt.“ Sie habe nach Situationen gesucht, in denen die Schüler:innen miteinander diskutiert hätten, erwidert Stucki. Doch dieser Versuch, „authentische“ Momente abzubilden, lief ins Leere. „Die Jugendlichen haben in den Pausen über alles andere, aber nicht über die Konferenz gesprochen. Verständlicherweise.“

Ein echtes Acting fand bei der Sitzung des Gemeinderats statt – eine Szene, die im Publikum für einige True/False-Konfusionen gesorgt hatte. Da solche Sitzungen nicht gefilmt werden dürfen, rekonstruierte Valeria Stucki die Debatte anhand der Protokolle und ließ sie von den Lokalpolitikern performen. Proben inklusive. Für die Räte offenbar kein großer Akt, für den mehrere Anläufe notwenig gewesen wären. „Politiker sind wie Schauspieler.“

Die Zuschauer:innen hätten häufiger gelacht im Film, merkt ein Zuschauer an, er auch, und hebt die Skurrilität hervor, die sich immer wieder Bahn breche. Valeria Stucki bestätigt das. Die Gesamtkonstellation in Zimmerwald – im Film wie im Ort – habe etwas Absurdes. „Dieses Sich-um-etwas-Herumbewegen, das ausgeblendet wird oder einfach nicht mehr da ist.“ Warum die üblichen Schweiz-Postkartenmotive fehlen würde, fragt Ute Adamczewski. Das sei Teil des visuellen Konzepts gewesen, sagt die Regisseurin. Zimmerwald sei eigentlich ein Ort mit einer ziemlich beeindruckenden Bergkulisse. „Um der Postkartenhaftigkeit zu entkommen, haben wir den Horizont weggenommen.“

Wie die Zusammenarbeit mit dem Schweizer Fernsehen ausgesehen habe, einem der Finanziers des Projekts, will Adamczewski zum Schluss wissen. Die Redaktion, so Stucki, sei vor allem am Kontrast zwischen Dorf- und Weltgeschichte interessiert gewesen, habe sich aber weitgehend aus der Konzeption herausgehalten. „Dass der Film für einen Kinodokumentarfilm mit knapp über einer Stunde relativ kurz geworden ist, war nicht das Ziel. Das hat sich einfach in der Montage so ergeben.“