Film

Tara
von Francesca Bertin, Volker Sattel
IT/DE 2022 | 86 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 46
7.11.2022

Diskussion
Podium: Francesca Bertin, Volker Sattel
Moderation: Dominik Kamalzadeh
Protokoll: Mark Stöhr

Synopse

Marienaltäre wachen über die Badenden im süditalienischen Taranto. Im „Fluss des Glücks“ suchen sie nach Abkühlung und Heilung. Wassergräser wehen in der Strömung, Legenden gedeihen am Ufer. Moleküle von Magie sucht die Mitarbeiterin des Umweltamtes vergebens, dafür stößt sie auf Abwässer aus dem benachbarten Stahlwerk. Im Schlamm des Tara vermengen sich Volksglaube, Wissenschaft und die falschen Versprechungen des Fortschritts.

Protokoll

Der Moloch drängt sich ins Bild, egal aus welcher Richtung man kommt. ILVA, das größte Stahlwerk Europas, dominiert die 200.000-Einwohner-Stadt Taranto im Süden Italiens. Ein Industriegigant aus den 1960er-Jahren, erst Hoffnungsträger für den ökonomischen Aufschwung, jetzt Sinnbild für die Kontamination einer ganzen Region. Es ist schwer, einen Film in und über Taranto zu machen, der nicht um die mächtigen vier Versalien kreist.
„Die Fabrik ist nicht nur optisch omnipräsent, sondern auch ein großes Medienthema. Gerade in den letzten zehn Jahren gab es viele Diskussionen und Proteste wegen der Umweltverschmutzung“, erzählt Francesca Bertin. In ihren Recherchen suchten sie und Volker Sattel explizit ein anderes Zentrum. „Wir mussten den Tara erst entdecken“ sagt Volker Sattel. Und in der vielarmigen Flusslandschaft, zwischen Schilf und Industriekanälen, fanden sie einen Gegenstand und eine Folie für ihre komplexe Erzählung, in der sie verschiedene Gegensatzpaare miteinander koppeln: Natur versus Urbanität, Aberglaube versus Fortschrittsglaube.
Der Fluss erscheine fast wie ein Subjekt, stellt Dominik Kamalzadeh in seinem Eingangsstatement fest und macht ein „rhapsodisches Erzählen“ aus. Erst nach und nach würden sich Zusammenhänge erschließen, vervollständige sich die Landschaft. Die Dramaturgie des Films entspricht in gewisser Weise dem Vorgehen der Regisseur:innen. Als Außenstehende erkundeten sie den Ort, kamen zunächst mit Umweltaktivist:innen in Kontakt, über die sie zu weiteren Personen und Plätzen gelangten. „Vieles ist aus Zufall entstanden“, erzählt Bertin. „Wenn man Menschen mit Offenheit und Vertrauen begegnet, bekommt man diese auch wieder zurück.“
Eine der vielen Legenden, die sich um die vermeintliche Wunderwirkung des Tara ranken, handelt von einem kranken Esel. Eigentlich dem Tode geweiht, kam er im Fluss plötzlich wieder zu Kräften. Der Film wagt eine Wiederbelebung und Aktualisierung der Geschichte. Im letzten Drittel steht ein verstaubter und ganz offensichtlich von Ekzemen geplagter Esel inmitten einer Gruppe von Kindern, die in einer der Sozialsiedlungen in der Peripherie der Stadt wohnen. Einige reiten auf dem Tier, andere haben Angst vor ihm. Eine Intervention der Regie und der Versuch, wie es Dominik Kamalzadeh ausdrückt, „den Mythos in den Film zu inkorporieren“. Es gäbe, erklärt Volker Sattel, in der Region keine Esel mehr, da wegen der Umweltbelastung 20 Kilometer um ILVA keine Weidehaltung erlaubt sei. „Wir haben den Esel also ziemlich weit weg gecastet.“ Es sei nicht nur darum gegangen, die Kinder in Kontakt mit einem für sie ungewohnten Lebewesen zu bringen, sondern vor allem ihre Reaktion darauf zu zeigen. „Die Legenden werden von den Leuten immer wieder neu erzählt“, erklärt Francesca Bertin, „und existieren in verschiedenen Versionen. Das ist unsere Version der Esel-Geschichte.“ Die Kinder seien verloren in der Trabantenstadt, die sich weit weg vom Zentrum befände und nur schlecht angebunden sei. „Gerade im Sommer herrschen hier Stagnation und Leere.“
Dominik Kamalzadeh spricht die weiß gekleidete Frau an, die als eine Art italienisches Alter Ego der beiden Außenstehenden aus Deutschland die Erkundung des Ortes mit übernimmt. Bei ihr, erzählt Sattel, handele es sich um eine Anthropologin, die sie auf einer Demonstration kennengelernt hätten. „Ihr weißes Kostüm brachte sie in eine besondere Position in der Interaktion mit den Einheimischen. Sie war wie ein Magnet.“

Warum, will Jan Peters aus dem Publikum wissen, liefe die Berichterstattung im Film meist über Bande. „Die Leute berichten sich gegenseitig, aber nicht an uns gerichtet.“ Ihnen sei es darum gegangen, sagt Bertin, ein Setting zu etablieren, in dem die Protagonist:innen frei kommunizieren und agieren können. „Es wurde schnell klar, dass wir mit klassischen Interviews nicht weit kommen“, ergänzt Sattel. „Daher haben wir Situationen geschaffen, in der eine Form der Improvisation möglich ist.“
Ein Zuschauer fragt nach den „bildnerischen Überlegungen“ der Filmemacher:innen. Volker Sattel, der die Kamera geführt hat: „Ich suche immer nach Verschiebungen, nach etwas Ungewöhnlichem und Rätselhaftem in meinen Bildern und möchte den Leuten nicht direkt ins Gesicht schauen. Ich will ihnen Raum lassen und filme einen Dialog auch gerne mal von hinten.“ Francesca Bertin: „Erst nach ungefähr 50 Minuten sieht man Taranto zum ersten Mal ganz. Davor tauchen wir in den Ort ein und setzen ihn Stück für Stück zusammen. Nicht nur mit Bildern übrigens, sondern auch mit Tönen, die für die Raumerfahrung und Verortung ebenfalls eine große Bedeutung haben.“