Film

Lo que queda en el camino
von Jakob Krese, Danilo do Carmo
DE 2021 | 93 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 46
8.11.2022

Diskussion
Podium: Jakob Krese
Moderation: Therese Koppe
Protokoll: Maxi Braun

Synopse

Erschöpft zieht der Treck die Straße entlang, gefährlich eng donnern die Lastwagen vorbei: Menschen auf dem Weg von Guatemala zur mexikanisch-amerikanischen Grenze. Einer von ihnen ist Lilian, unterwegs mit vier Kindern, auf der Flucht vor ihrem Mann. Szenen der Mühsal, Szenen des Glücks: ein Bad im Fluss, eine frische Mango, man hält zusammen. Jeder Schritt bringt Lilian einer Idee von Freiheit näher. 4.000 Kilometer sind es bis zum Ziel.

Protokoll

Alles ist in Bewegung. Ständig. Unterwegs sein, zu Fuß, am Straßenrand, schnell zwischen den Blechlawinen hindurch. Mit vollem Gepäck, ein Kind auf dem Rücken, zwei an der Hand. Bloß keines verlieren im Gewimmel. Rauf auf die Ladefläche des LKW, nur immer weiter vorankommen. Keine Verschnaufpause. Kein Rückzugsort. Es stresst und das ist gewollt. Jakob Kreses und Danilo do Carmos Film begleitet die letzte Karawane, die sich im Januar 2020 von Guatemala Richtung US-Grenze aufmacht. Ein Track tausender Migrant:innen, die sich zusammenschließen, weil sie kein Geld für Schleuser haben. Insbesondere für vulnerable Gruppen – alleinstehende oder alleinerziehende Frauen oder LGBTQ+ – verspricht die Karawane eine solidarische und sicherere Schicksalsgemeinschaft bis zur US-Grenze. Das ersehnte Ziel, an der die „temporäre Familie“ in individuelle Schicksale zerbirst.

Dieses drängende Gefühl des unbedingten Vorankommens erzeugt „Lo que queda en el camino“ von Anfang an. Wir versuchen mit Protagonistin Lilian Schritt zu halten, heften uns an ihre Fersen. Sie ist 29 Jahre alt, hat ihre vier Kinder dabei und ist wieder schwanger. Ihren gewalttätigen Mann lässt sie in ihrer Heimat zurück. Ein Ort, an dem es weder Frauenhäuser noch ökonomische Perspektiven gibt. Weg muss sie und weg will sie auch. Mit ihrer anfangs verschlossenen und ruhigen Art wird sie schnell zum Ruhepol. Zum Einen für ihre Kinder, die trotz wunder Füße, Erschöpfung und Hunger immer wieder Momente unerwarteter Leichtigkeit erleben: Wenn sie reife Mangos vom Baum pflücken oder inmitten einer provisorischen Zeltstadt vor der Wüste miteinander „Migrant und Grenzpolizei“ als Variante von Räuber und Gendarm spielen. Zum Anderen für die filmische Erzählung. Auf den fast 4000 Kilometern, die sie bis nach Tijuana größtenteils zu Fuß zurücklegt, wächst sie über sich hinaus und scheint sich doch ihrer Heldinnengeschichte kaum bewusst zu sein.

Inszeniert mit einer poetischer Bildsprache, quellen in „Lo que queda en el camino“ stimmungsvolle Einstellungen über die Leinwand. In Kombination mit Lilians Geschichte, die sich in perfekter Dramaturgie entfaltet, wirkt das alles andere als dokumentarisch. Es ist schwer zu glauben, dass hier so gut wie nichts inszeniert sein soll: Lilians Telefongespräche mit Jeremias, dem Vater ihres ungeborenen Kindes, der schon in den USA ist und sie dort unterstützen soll. Die Freundschaft, die sie mit Maria schließt, die schnell zur Ersatz-Oma avanciert. Oder die Casa de Luz, ein Safe Space für LGBTQ+-Migrant:innen in Tijuana, in dem die Solidarität der Karawane andauert. Das Filmgespräch, das Jakob Krese mit Therese Koppe zunächst über den Entstehungsprozess führt, relativiert diesen Eindruck jedoch schnell. Krese selbst hat lange in Zentralamerika gelebt, dort für diverse NGOs gearbeitet. Ursprünglich sollte die Karawane als Ganzes, später drei Frauen im Zentrum der Narration stehen. Bis Lilian oder besser gesagt Lilians Kinder den Kamerablick auf sich zogen. Diesem Machtgefälle ist sich Krese sehr bewusst. „Da ziehen drei Typen los, zwei davon Weiße mit fettem Filmequipment“, fasst er zusammen. Er berichtet aber auch, von Lilians Freunden gebeten worden zu sein, sie beim Dreh im Auge zu behalten. Denn Macht bedeutet hier nicht nur Macht über die Protagonistin zu haben, sondern sie in bestimmten Situationen beschützen zu können.

Erst gegen Ende kommt die Frage aus dem Publikum auf, ob „Lo que queda en el camino“ nicht Migration romantisiere und das Leid hinter der Bildästhetik und der Narration der Heldinnengeschichte unsichtbar bleibe. Jemand anderes im Publikum kann keine Romantisierung erkennen und artikuliert ein allgemeines Unwohlsein ob der Zurschaustellung menschlichen Leides. Besonders in der Szene, als Lilian sich übergibt und die Kamera bei diesem intimen Moment der Schwäche lange draufhält. Krese rechnet mit der Kritik aus diesen gegensätzlichen Richtungen. Geduldig legt er dar, warum er eine Gegenerzählung zum typischen „Misery-Porn“ und der medial dominanten Viktimisierung schaffen wollte. Wie er in den zweieinhalb Monaten, die er und sein Team die Karawane begleitet haben, auch als emanzipatorische Bewegung erlebte. Lilian selbst habe sich schnell als starke Stellvertreterin für diese Art der Darstellung bewiesen. Jede Einstellung, in der sie zu sehen ist, wurde zudem im umfangreichen Montageprozess mit ihr besprochen und ihre Wünsche berücksichtigt. Das Coming Out am Ende, was selbst das Filmteam überrascht habe, belegt ihren Einfluss. Obwohl ihr Outing dramaturgisch eigentlich den Rahmen sprengt, findet die Szene ihren Weg in den Film.

Romantisierung oder Exponierung? Letztlich, konstatiert Krese, bleibe es vor allem eine Frage der individuellen Perspektive, ob man im Film eher das Leid oder mehr Agency seitens der migrierenden Menschen wahrnehme.