Film

Krai
von Aleksey Lapin
AT 2021 | 123 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 45
12.11.2021

Diskussion
Podium: Aleksey Lapin
Moderation: Alejandro Bachmann
Protokoll: Patrick Holzapfel

Synopse

„Wann fahren wir zurück nach Wien?“ – „Wenn das Projekt beendet ist.“ Der Regisseur dreht einen historischen Film über sein Heimatdorf an der russisch-ukrainischen Grenze. Die Bewohner:innen bewerben sich als Mitwirkende. Aber ist dieses Projekt überhaupt real? Oder nur eine Fiktion, um die Realität des Ortes zu erkunden? Fragmente des Alltags fädeln sich auf. Begegnungen, Zufälle, Inszenierungen. Ein Auto bleibt liegen, der Strom fällt aus. Ein Porträt als Casting. Ein mäanderndes, magisches Making-of.

Protokoll

Es gibt Gespräche, die von einer einzelnen Frage vereinnahmt werden. Eine Frage, die bereits während, aber vor allem nachher im Raum verharrt und über die draußen auf der Straße weiter diskutiert wird. Im Fall der Diskussion mit Filmemacher Aleksey Lapin nach seinem Film „Krai“ stellt Journalist Matthias Dell diese Frage aus dem Publikum. Er wolle wissen, was die Auswahlkommission dazu bewogen habe, den Film im Rahmen eines Dokumentarfilmfestivals zu zeigen. Mit dieser Polemik reagiert er auf bereits geäußerte Überlegungen zur Fiktionalität des Films und auf ähnliche Diskussionspunkte rund um den Film „Anmaßung“ von Stefan Kolbe und Chris Wright. Was die Frage eigentlich impliziert: Gibt es eine Grenze, die das Dokumentarische vom Fiktionalen abhebt?

Zwar räumt Dell augenzwinkernd ein, dass er vielleicht ein zu konservatives Bild vom Dokumentarischen habe, aber die Frage im Kontext dieses spezifischen Festivals überrascht mich doch sehr. Es ist mein erster Besuch in Duisburg und ich dachte, dass man hier über solche, wenig produktiven Überlegungen längst hinaus wäre. Gerade, dass der Film ausgewählt wurde, lässt letztlich einen Blick zu. Die Frage, ob er dokumentarisch oder nicht sei, versperrt den Blick. Sich im zeitgenössischen Kino nach derartigen Unterscheidungen zu sehnen, ist ein recht hoffnungsloser Akt. Moderator Alejandro Bachmann merkt an, dass sich das Dokumentarische und Fiktionale im Film gegenseitig bedingen. Vielleicht eine Grundvoraussetzung jedes Films? Die Frage wäre nur zu welchen Anteilen und wie bewusst und warum das wichtig wäre.

Der Filmemacher selbst sagt, dass sich diese Frage für ihn nicht stelle. Für ihn gäbe es nur einen Unterschied und das wäre ein Pakt mit dem Zuschauer. Beim Dokumentarfilm wisse man, dass es um die Wirklichkeit ginge, in der Fiktion sei alles Fake. Auch diese Definition wirkt sehr problematisch. Der mindestens genauso fragwürdige und überholte Begriff des „Hybriden“, den Kritiker Dominik Kamalzadeh anschließend in den Raum wirft, hat zumindest zwischenzeitliche Abhilfe geleistet; der Vorschlag sei gestattet: Lasst uns erstmal über einen Film sprechen. Der Pakt mit dem Zuschauer wäre dann, dass er sich auf die Bilder und Töne einlässt und selbst entdeckt, dass alles im Kino wirklich ist und nichts im Kino wirklich ist.

Dennoch steht die Frage sinnbildlich für das gesamte Gespräch, in dem sich die Fragenden um Einordnungen rankten, während Lapin sich mit der Freiheit befasste. Der Filmemacher zog sich interessant aus den Fallstricken der Intellektualisierung seines faszinierenden Films und legte eine reflektierte Position zum Kino dar.

„Krai“ ist eigentlich nicht beschreibbar. Wenn doch, könnte man sich über von Lapin genannte Schlagworte wie Freiheit, Ethnografie und Hinterfragung nähern. Im Zentrum des Films stehen ein Dorf und ein Film, der dort gedreht werden soll. Bachmann kleidet die Rätselhaftigkeit von „Krai“ in Worte. Es gäbe zwei Pole. Einen mäandernden, organischen Pol, der das Raum-Zeit-Gefühl des Ortes greifbar mache und einen sehr konstruierten, gesetzten Pol, in dem kleine Narrationen entstünden und in dem sich der Film beständig selbst thematisiere. Der Moderator sucht interpretatorische Anknüpfungspunkte, nennt die von Lapin selbst im Kino formulierte Idee des Familienfilms und beschreibt die Rolle des Filmteams im Film sowie die mysteriöse Geschichte austretender Gase, die Menschen und Maschinen beeinflußen. Lapin betont die inhärente Privatheit seines Films, der zerbrechlich wäre wie ein Liebesbrief. Er filme seine Verwandten. Aber er habe sich auch die Freiheit genommen, all das zu zeigen, was er zeigen wolle. Man spürt diese Freiheit im Film. Es entsteht eine seltene Lust am Kino, eine Verspieltheit, die von Kamalzadeh gar als Burleske wahrgenommen wird.

Lapin berichtet, dass er mit einem Drehbuch beziehungsweise Treatment arbeitete. Auf Nachfrage sagt er, dass 40% des fertigen Films dem Drehbuch entsprächen. Wie im Film kann man sich nicht sicher sein, ob er das ernst meint. Er habe einen Sommermonat mit seinem Team im Dorf gelebt. Lapin ist ein Filmemacher, der über sein Tun nachdenkt. Das mag ein etwas stupider Satz sein, in seinem Fall entsteht allerdings tatsächlich Antrieb aus der Notwendigkeit des Kinos. Warum macht man einen Film? Für „Krai“ wäre die eigene Ungewissheit wichtig. Er verstehe sich als Heimatloser und in diesem Dorf, das er nicht als sein Heimatdorf verstanden haben möchte, konzentrierten sich viele Fragen. Um das Rätselhafte einzufangen, benötige er eine Strategie. Daher arbeite er mit fiktionalen, mysteriösen Versatzstücken.

Er habe auch Antworten gefunden. Man müsse diese aber nicht verstehen. Etwas im Film versperrt sich. Es ist ein schmaler Grad. „Krai“ versteckt mindestens genau so viel wie er zeigt. Aber gerade im Verstecken entblößen sich weitere Wahrheiten, die jedoch in letzter Konsequenz, so eine Publikumsmeldung, auf den Filmemacher statt die Menschen im Dorf verwiesen. Was sieht man hier? Das Porträt eines Ortes oder einen Film über einen Film? Warum nicht beides zugleich und noch viel mehr?

Für Lapin leben die Menschen im Film in einer Art Vergangenheit. Sie würden Perestroika-Lieder singen und die alten Träume hüten. Die Kollaboration mit den Menschen im Ort beschreibt der Filmemacher mit süffisanter Komik. Manche hätten nicht gewusst, was passiere, einmal sei ein Schauspieler verschwunden und die Polizei hätte bis zu dessen Rückkehr den Regisseur dafür verantwortlich gemacht. Gewissermaßen beschreibt Lapin eine ganz eigene Mythopoesis. Der Film schafft einen eigenen Illusionsraum, in dem die Menschen und Orte agieren können. Er schenke den Dingen Zeit und würde dafür ein bisschen Wahrhaftigkeit zurückbekommen, sagt der Filmemacher. Es ist eine intensivierte Zeit. Für die Menschen wäre es spannend gewesen mitzumachen. Egal bei was.

Dennoch hinterfrage er auch die Gewalt des Filmemachens. Er habe sich selbst bewusst nicht sympathisch im Film gezeigt. Er habe versucht, die eigene Unsichtbarkeit zu opfern, damit sich alle auf einer Ebene begegnen können. Niemand habe gewusst, was passieren würde, manche eigentlich geplante Szenen wären erst tief in der Nacht entstanden. Man habe Rahmen geschaffen, in denen etwas passieren konnte und die Kamera oft einfach laufen lassen. Das erinnert an berühmte Street-Fotografen, die ähnlich wie der Film die Gleichzeitigkeit einer Unvorhersehbarkeit und ästhetisch-formaler Motivationen austarierten. Diese Prozesse führen wieder zurück zur Gretchenfrage des Abends. Lapin sehe in „Krai“ verschiedene Ansätze, um das Leben wahrzunehmen. Es gehe ihm um Grenzüberschreitungen. Vielleicht ist das die Antwort. Keine begrifflichen Grenzen für ein freieres Kino? Der Film repräsentiere, was er in diesem Dorf gespürt habe. Er finde dieses Gefühl im Film wieder. Man könne nicht alles verstehen, das sei Teil des Lebens und des Kinos.

 Foto: Thomas Berns
Foto: Thomas Berns