Film

Köy
von Serpil Turhan
DE 2021 | 90 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 45
10.11.2021

Diskussion
Podium: Serpil Turhan, Simon Quak (Montage), Eva Hartmann (Montage)
Moderation: Alexander Scholz, Bettina Braun
Protokoll: Maxi Braun

Synopse

Köy – das Dorf. Für drei Kurdinnen ist es ein politischer und emotionaler Projektionsort in der Türkei. Vor dem Fenster der Berliner Kiez. Zwischen beiden bewegen sich die Frauen der Familie mit ihren Worten, öffnen Türen zu ihren Biografien: Wie war es, in dem Dorf aufzuwachsen? Wie, dort eine Frau zu sein? Fährt man hin, um dort zu leben oder zu sterben? Engagiert man sich politisch? Dreht man einen Film? Verwobene Geschichten, die erzählen, wie man zu der wurde, die man ist.

Protokoll

Am Anfang ist das Dorf. Der Establishing Shot zeigt in der Totalen grüne Hügel, die sich sanft in die Landschaft schmiegen, Alltagsgeräusche erklingen, Menschen bewegen sich in der Ferne. Dann friert das Dorf ein, die nächste Einstellung zeigt nicht mehr das, sondern nurmehr ein Bild des Dorfes an der Wand hängend. Trotzdem bleibt das Dorf der Fluchtpunkt des Films und seiner Protagonistinnen. „Ich frage mich manchmal, ob es nicht nur eine Fantasie ist von einer Leerstelle, die man in sich trägt“, sagt die Regisseurin in einer Szene selbst und eine ihrer Protagonistinnen antwortet ihr „Vielleicht weil wir nie die Gelegenheit hatten, dort zu leben.“

Serpil Turhan sucht mit drei kurdischen Frauen aus drei Generationen – ihrer Großmutter Neno, Saniye und Hêvîn – den persönlichen, intimen Kontakt. Im Bild ist sie nie zu sehen, auf der auditiven Ebene ist sie stets präsent. Diese dialogische Form, bei der Ereignisse nur durch Gespräche vermittelt werden, und der Wunsch nach Austausch sind Turhans Ausgangspunkt. Spätestens die Gezi-Park-Proteste 2013 lösen bei ihr Irritationen gegenüber dem Herkunftsland ihrer Eltern und Großeltern aus. Sie hadert mit ihrer doppelten Staatsangehörigkeit, will keine Beziehung zur Türkei. Mit Neno, Saniye und Hêvîn thematisiert sie diese ambivalenten Gefühle. Gespräche über Identität, Zugehörigkeit und die Sehnsucht nach eben jener „Leerstelle“, die mit Erwartung und Hoffnung aufgeladen wird, entfalten sich.

Fast ist man versucht, von Heimat zu sprechen. Bettina Braun bringt den Begriff in die Diskussion ein, Turhan weist ihn zurück. Heimat mag ein Raum aus Zeit sein, 218 Minuten haben nicht gereicht, um das zu erklären, was auch Heise-Schülerin Turhan weiß. „Heimat“ scheint aber auch verkrustet, verbrannt und inhaltsleer; ein Gegenentwurf zu der Vorstellung des Dorfes, die mit Bedeutung aufgeladen, geradezu überfrachtet wird.

Turhan interessiert sich mehr für die Entscheidungen, die ihre Protagonistinnen treffen und wie diese ihre Leben beeinflussen. Neno, Saniye und Hêvîns Mutter stammen nicht aus demselben Dorf, sie stehen an unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben. Hêvîn ist erst politisch aktiv, beginnt dann ein Schauspielstudium an der UdK Berlin. Saniye betreibt ein Café in Schöneberg, träumt aber davon, einmal alle Jahreszeiten in dem Dorf erleben zu können, das sie als Einjährige verlassen musste. Für Neno stellt sich die Frage, wo sie einmal beerdigt werden will – im Dorf, wo ihr schlimmes widerfuhr oder in Istanbul. Aber so wie sich bei jeder von ihnen die unterschiedlichen Identitäten – Kurdisch, Türkisch, Deutsch – ineinander verschränken, verbinden sich auch ihre Biografien im Verlauf des Films miteinander. Alexander Scholz sieht darin „dramaturgische Traversen“. Im Sinne von Querverbindungen oder auch architektonischen Verstrebungen führt das direkt zu den Orten, an denen im Film die Interviews geführt werden und die eine wichtige Rolle spielen.

Es sind private, fast banale Orte. Intime Lebensräume dem Wortsinn nach, die nicht inszeniert sind. Sie verändern sich mit den Lebensumständen, transportieren auch in Abwesenheit ihrer Bewohnerinnen Geschichten und nehmen Entwicklungen auf der Bildebene vorweg. In diesen Orten und der Art, sie in Szene zu setzen, vermutet Bettina Braun einen Grund für den intensiven Sog, den der Film für sie entfaltet. Marion Kainz verrät, ihr sei zwischendurch sogar entfallen, dass sie einen Film sehe. Für sie erklärt sich die Intensität der filmischen Erfahrung in seinen Themen. Was bleibe, sei das starke Gefühl, dass es hier „um etwas geht“. Das meint weniger die Narration als die Verhandlung politischer Fragen.

Dabei geht es nicht nur um die Lage der Kurdinnen und Kurden in der Türkei oder die sukzessive Aushöhlung der Demokratie unter Erdoğan. Der Terror des Regimes wird in „Köy“ tatsächlich nicht didaktisch oder gar ideologisch vermittelt. Ein Umstand, der für viele Förderer nicht selbstverständlich war. Denn die Finanzierung war nicht nur der Form eines vornehmlich von Gesprächen und Talking Heads getragenen Films wegen schwierig und frustrierend. „Kurden gleich PKK gleich Terrorismus“ ist in den Köpfen vieler Verantwortlicher die Gleichung, wie Produzentin Barbara Groben berichtet. Einigen Förderanträgen fügt sie gar einen „Beipackzettel“ hinzu, der diese Bedenken entkräften soll.

Auch die Geringschätzung und Einschränkungen von Frauen, nicht nur in dörflichen Strukturen, sind immer wieder Thema im Film. Wer Turhans Diplomfilm „Dilim Dönmüyor – Meine Zunge dreht sich nicht“ (2013) kennt weiß, dass Neno schon mit 13 Jahren in ihrem Dorf zwangsverheiratet wurde. Saniye kämpft sich aber auch in Deutschland noch als Jugendliche frei und muss sich vor Mutter und Verwandschaft bis heute für ihre Kinderlosigkeit rechtfertigen. Turhan schließlich wird durch ihre Schwangerschaft während der Dreharbeiten und die sich ständig wiederholende Aussage „Es wird ein Mädchen? Ist ja nicht so schlimm“ mit tief verankerter Geringschätzung von Frauen konfrontiert. Für Hêvîn scheint der Rassismus, der ihr auch an der UdK begegnet, den Sexismus überholt zu haben. In der Diskussion interessiert sich dafür niemand.

„Köy“ erzählt von Krieg, Vertreibung, Flucht, von Identität und Neuanfang, vom Zerrissen sein und darüber was es heißt, nirgends wirklich anzukommen. So bleibt selbst an den Orten der Gespräche oftmals nur der sehnsüchtige Blick aus dem Fenster der versucht, in der Ferne auf die Idee von einer Heimat zu fokussieren.

 Foto: Thomas Berns
Foto: Thomas Berns