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Wie weiter? (IV): „Scandinavian Star“

Duisburger Filmwoche 44
02.11.2020

Podium: Mikala Krogh
Moderation: Tosten Zarges
Protokoll: Niklas Kammermeier

60.000 Seiten ausgewertete Dokumente, Ermittlungen und Zeugenbefragungen in 18 Ländern auf fünf Kontinenten – und immer noch ein Mysterium: Wie kam es zum Brand auf der Fähre Scandinavian Sta, der zur Katastrophe mit 159 Toten führte? In ihrer sechsteiligen TV-Serie für DR (Dänemark), NRK (Norwegen) und TV4 (Schweden) nimmt Regisseurin Mikala Krogh die Spur auf – und präsentiert in Duisburg ein ausführliches Making-of des Projekts.

Protokoll

Wie sehr sich in Pandemiezeiten bereits neue Sehgewohnheiten gefestigt haben, merkt man vor allen dann, wenn etwas von diesen abweicht. Waren bislang die statische Webcam oder die Laptopkamera für die Auftritte der Gäste stilbestimmend, ändert sich die Ästhetik beim Einzelgespräch von Torsten Zarges mit Mikala Krogh über die dänisch-norwegisch-schwedische Doku-Serie Scandinavian Star (2020). Die Filmemacherin bei Danish Documentary Productionnutzt die Front-Kamera ihres Smartphones, das beim (dänisch gefärbten) Englischreden ins baumelnde Headset gehörig wackelt. Das Mobiltelefon produziert dabei nicht nur eine etwas ungewohnte Fish-Eye Optik, sondern sorgt zudem vereinzelt für plötzliche Aussetzer der Internet-Übertragung. In solchen Momenten stocken Bild und Ton. Dann versucht die Zoom-Software das Verpasste nachzuholen. Bewegtbild und gesprochenes Wort werden um ein Vielfaches schneller abgespielt, bis wieder zur Live-Übertragung aufgeschlossen werden kann.

Das Gespräch dominiert daher eine gewisse, technisch induzierte Atemlosigkeit. Durchaus erscheint dieser Eindruck kongruent zur Ästhetik der vorgestellten Produktion. Denn gerade im Gegensatz zur im Panel zuvor diskutierten ZDF-Produktion Höllental ist bei der (an RTL verkauften) Doku-Serie die Arthouse-Langsamkeit nun wieder einem üblicheren True-Crime-Erzähltempo gewichen. Ein (ruckelfrei) gestreamter Trailer und ein Episoden-Teaser versprechen ein Feuerwerk aus Archivmaterial, konspirativen Enthüllungs-Interviews, grafisch animierten Rekonstruktionen, symbolistischen Nachstellungen und packender Musik. Auch dies ein Gegensatz zu Höllental: Krogh tritt durchweg in Personalunion von Filmemacherin und Enthüllungsjournalistin auf; eine Vermengung von Aufgaben und Kompetenzen, die Höllental-Regisseurin Marie Wilke noch entschieden abgelehnt hatte. Neben Aspekten der Produktion geht es daher auch immer wieder um die investigativen Errungenschaften der Doku-Serie; die noch nie gehörten Zeugen, das noch nie gesehene Archivmaterial, die noch nie gestellten Fragen. Die Glitches der Zoom-Übertragung unterstützten die True-Crime-Dramaturgie dabei unfreiwillig. Denn wiederholt sorgen die Aussetzer der Übertragungen genau dann für Cliffhanger, wenn besonders brisante Enthüllungen zur Sprache kommen.

Warum die Produktion im Rahmen des Konferenz-Themas besprochen wird, ist von Anfang an klar. Der behandelte Kriminalfall ist aufgrund seiner Komplexität und traumatischer Latenz einfach zu groß für ein Feature. Erst das Format der Doku-Serie, so Krogh, hätte es ermöglicht, dem bis heute unaufgeklärten Schiffsbrand von 1990 im Meer zwischen Dänemark, Norwegen und Schweden, bei dem 159 Menschen ums Leben kamen, so tief auf den Grund zu gehen. Bei der Recherche wurde das Produktions-Team von Journalist und Buchautor Lars Halskov unterstützt, der nicht nur Kontakt zu Quellen und Zeug*innen herstellte, sondern auch bei den meisten Interviews anwesend war. Zusätzlich wurden Journalist*innen auf der ganzen Welt angeheuert, etwa in den USA, in Kanada oder auf den Philippinen. Dies war deswegen notwendig, um über lange Zeiträume hinweg Kontakt und Vertrauen zu teilweise traumatisierten Zeug*innen und Überlebenden aufzubauen. Nur so konnten etwa erstmals philippinische Crew-Mitglieder oder ein nach Kanada ausgewanderter Überlebender überzeugt werden, vor der Kamera auszusagen. Außerdem waren viele wichtige Zeug*innen so alt, dass man sich beeilen musste, sie noch vor ihrem Tod zu befragen. Tatsächlich seien manche Zeug*innen noch vor Beginn der eigentlichen Produktion verstorben.

Trotzdem die Gravitas der Ereignisse immer wieder beschworen wird, etwa wenn die Regisseurin vom „größten Mordfall Skandinaviens seit dem Zweiten Weltkrieg“ spricht oder Superlative der Produktion aufgerufen werden – 60.000 Seiten Dokumente, über 100 Interviews in 18 Ländern, die teuerste Doku-Serie Skandinaviens – zündet der True-Crime-Funke nicht gänzlich. Dies zeigt sich auch daran, dass im Anschluss des Gesprächs eine einzige Frage gestellt wird, was womöglich an den Distanzierungs-Effekten der widrigen Bild- und Tonübertragung liegt, noch wahrscheinlicher aber daran, dass der rekonstruierte Kriminalfall hierzulande kaum auf ähnliche Weise im kollektiven Gedächtnis verankert ist, wie etwa der zuvor besprochene Fall Knobloch.

Dennoch interessant wird das Gespräch immer dann, wenn ökonomische und organisatorische Themen zur Sprache kommen. So sei der große Umfang der Recherchen nicht zuletzt durch das Danish Film Institute ermöglicht worden. Dieses finanzierte eine zwei-jährige Stoffentwicklung. Das Besondere: In dieser Zeit wurde nicht nur recherchiert (ein eigener Archive Producer ging gezielt auf die Suche nach noch nicht veröffentlichtem Archivmaterial). In der Zeit der Stoffentwicklung wurden bereits 20 Interviews gefilmt, erstes Material wurde editiert. Erst danach ging man mit einem fertigen Skript und ersten Bildern zu den Fernsehsendern. Diese exzessive Vorarbeit sei für die Überzeugung von Geldgeber*innen notwendig gewesen, um einer inhärenten Skepsis gegenüber dem Projekt zu begegnen. Denn durch den großen Stellenwert des Ereignisses in Skandinavien sei zunächst nicht evident gewesen, warum man noch einmal eine Geschichte über den Fall erzählen sollte. Der „unique selling point“, den Mikala Krogh im Gespräch immer wieder betont – „Everyone thinks he knows what happened. But nobody really knows“ – führte zum Erfolg. Eine Kooperation von schwedischen, dänischen und norwegischen Sendern brachte schließlich eine Fördersumme von ca. 4.000.000 € ein, was Scandinavian Star zur teuersten, jemals produzierten Doku-Serie in Skandinavien macht. Für Schmunzeln sorgt dabei Kroghs Aussage: „In your world it might not be a lot”, was zwar von Zarges sofort dementiert wird und dennoch den Eindruck spiegelt, dass über die immer wieder unterbrochene Fernleitung nach Dänemark Kontakt zu einer gefühlt weit entfernten Welt aufgenommen wird. Interessanterweise kommt in diesem Zusammenhang zur Sprache, dass einer Überwindung von geografischen Distanzen durch internationale Verwertungen komplexe, ökonomische Grenzen gesetzt sind. Dies führt auch in Zeiten von weltumspannenden Streaming-Plattformen eben nicht dazu, dass ein skandinavisches Jahrhundert-Ereignis in die medialen Gedächtnisse der Nachbarländer einwandert. Denn gerade die aufwändige Archivrecherche zieht den Pferdefuß nach sich, dass für jede Minute Fremdmaterial (laut Krogh ca. 30% der Spielzeit) die Rechte für jedes einzelne Land geklärt und finanziert werden müssen.

Im exzessiv gesammelten Material sei schließlich alles enthalten gewesen, „was eine gute Geschichte braucht“. Dennoch, oder gerade deswegen, habe man großen Mühe darauf verwendet, die Fakten zu verdichten und zu dramatisieren. Nicht zufällig war es Nikolaj Scherfig, Autor der erfolgreichen dänisch-schwedisch-deutschen Nordic-Noir-Serie Die BrückeTransit in den Tod (2011–2018), der vor mehreren Jahren die Vision einer großen skandinavischen True-Crime-Serie im Stile von Making A Murderer (2015) oder The Jinx (2015) entwickelte. Die Zusammenarbeit mit einem Fiction-Autor hätte dann insbesondere dazu geführt, dass man sich für die Bearbeitung des recherchierten Materials aus der „Tool-Box“ des fiktionalen Erzählens bedienen konnte. Turning-Point, Cliffhanger, Climax und Point of no Return wurden zu entscheidenden narrativen Mitteln, um das Material zu verdichten.

Ein „cinematic approach“ war Krogh auch bei der Inszenierung der Bildebene wichtig. Dabei galt die Vorgabe, keine „cheesy reconstructions“ zu verwenden, die bei den Zuschauer*innen Zweifel ob der Authentizität des Gezeigten auslösen könnten. Vielmehr versuchte man etwa mittels grafischer Schaubilder den notwendigen Informationswert mit kinematografischer Emotionalisierung zu verknüpfen. Dass dies am Schluss nicht wie „Pac Man“ aussah, sei der langen Beschäftigung mit dem richtigen Stil geschuldet. Bei der Übersetzung der Ereignisse in eine filmische Erfahrung spielte ihnen auch das cineastische Archivmaterial in die Hände. So wurde das brennende Schiff während der Katastrophe beständig von einem Nachbar-Schiff aus gefilmt. Es galt dabei, die Balance zwischen notwendiger, visueller Eindrücklichkeit und potenzieller Überforderung der Zuschauenden sowie dem Respekt vor den Überlebenden und Verwandten zu finden. Moderator Zarges, der die Doku-Serie offensichtlich gesehen hatte, bestätigt, dass sich diese Selbstverpflichtung auch bei der Sichtung einlöse. Er hätte einen weitgehenden Verzicht auf Spektakel und „Tabloid-Headlines“ beobachtet.

Notwendig für die Verdichtung des Materials sei schließlich auch ein effektiver Schnittprozess gewesen. Da The Jinx von Anfang an als nachzuahmendes Vorbild im Raum stand, traf man sich mit dem Editor der HBO-Serie Zachary Stuart-Pontier. Von ihm ließ man sich nicht nur für die Schnitt-Gestaltung inspirieren, sondern übernahm auch das Organisations-Prinzip der Post-Produktion. Nach Sichtung des gesamten Materials saß der Editor während der acht-monatigen Schnittphase nicht selbst am Schnittplatz, sondern fungierte als Supervisor, der die Arbeit von drei Editor*innen koordinierte.

Kroghs Antwort auf die finale Frage danach, wie nahe sie mithilfe der investigativen Recherche einer Lösung des Kriminalfalles gekommen seien, wird durch einen erneuten Glitch unterbrochen. Erst nachdem sich das Bild wieder stabilisiert, kommt die Auflösung.  Die „smoking gun“ sei noch nicht gefunden, bedauert die Produzentin. Aufgedeckt worden seien jedoch Versagen und Vertuschen der Polizei. Neue Fährten, etwa in die USA und neue Verdächtigungen, insbesondere zu möglichem Versicherungsbetrug seien ans Licht gekommen. Bestätigt in ihrem aufwändigen Vorhaben sieht sich Krogh nicht nur durch den enormen Zuschauer*innen-Erfolg, sondern auch durch den unmittelbaren Effekt auf die Politik: Justiz und Regierung überlegen, den Fall neu aufzurollen.