Film

Seestück
von Volker Koepp
DE 2018 | 136 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 42
07.11.2018

Diskussion
Podium: Volker Koepp
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Georg Kußmann

Synopse

Die Orte, deren Licht einst romantische Bildnisse inspirierte, sind noch da. Die Erzählungen ändern sich. Windparks ragen nunmehr in die diesigen, hohen Himmel über der Ostsee. Kreuzfahrtschiffe funkeln in der Dämmerung. Ein Raum, überformt durch Bilder, Politik und Lebensweise verändert sich in den Worten derer, die ihn beschreiben. 

Protokoll

Werner Ružička eröffnet das Gespräch mit der Einschätzung, Volker Koepp könne aufgrund seiner jahrelangen Verbundenheit mit und seinen zahlreichen Filme im Programm der Dusiburger Filmwoche ohne weiteres als Hausautor bezeichnet werden. Er fährt fort, man könne SEESTÜCK, den Titel des eben gesehenen Films, als Kalauer auf dessen Vorgängerfilm LANDSTÜCK (2016) auffassen. Ružička möchte wissen, ob es neben dieser Verbindung auch noch einen guten Grund für die Wahl das Titels gegeben habe. Koepp antwortet, beides seien Begriffe der bildenden Kunst. Der Begriff des „Seestückes“ mit denen Abbildungen des Meeres, Schiffahrtsmotive, Schiffsuntergänge und dergleichen betitelt würden, sei ihm für seinen Film über die Ostsee passend erschienen. Zum einen hätte er die geographischen Namen der Gegenden, die er im Laufe seines Schaffens bearbeitet habe, in titelgebender Hinsicht bereits abgegrast. Zum anderen weise der Ausdruck über das hinaus, was man im ersten Moment in ihm vermute. Koepp verweist noch einmal auf den Film LANDSTÜCK als Ausgangspunkt für SEESTÜCK und führt aus, er habe im Laufe seiner filmischen Tätigkeit eine Reihe von Gebieten immer wieder besucht und bearbeitet, insbesondere das nördliche Brandenburg bis hoch zur Ostsee sowie die Gebiete östlich davon. Wann immer er ein Gebiet wieder besuche, müsse es ihm gelingen eine erneute Spannung, neuerliches Interesse aufzubauen. Im Film Landstück, der in der Uckermark gedreht wurde, ergab sich dies durch die Veränderung der Landschaft und ihrer Besitzverhältnisse. Die Arbeiter aus der Landwirtschaft berichteten von zehntausenden Hektar Land, die mehrfach den Besitzer gewechselt hätten. Der Gedanke an das bei der Feldarbeit ausgebrachte Gift, das über die großen Ströme Oder, Weichsel und Memel im Meer lande war für ihn ein Ansatzpunkt für das Nachdenken und die Arbeit an SEESTÜCK.

Dass die Ostsee auch sarmatischer Ozean genannt wird, wirft Ružička ein – was wiederum auf Koepps Film GRÜSSE AUS SARMATIEN (1973) verweise, insofern sei bereits eine Verbindung zu dessen Werk vorhanden. Ob das bis dato von Koepp bearbeitete Territorium mit den verschieden Drehorten des Ostseeraums neue Himmelrichtungen bekommen, sprich geografisch erweitert worden wäre, möchte er wissen. Koepp erzählt, dass er im Jahr 1959 seinen Vater auf einer beruflichen Reise nach Trelleborg begleiten durfte. Nach der Grenzschließung seien diese Bereich für ihn zu Sehnsuchtsorten geworden. Nicht nur Skandinavien, auch die zur Sowjetunion gehörenden Gebiete Lettland, Estland und das ehemalige Ostpreußen waren nicht zugänglich. Als sich das Anfang der neunziger Jahre änderte, sei er sehr bald dort hingereist und habe beispielsweise den Film KALTE HEIMAT (1994/95) zusammen mit dem Redakteur Werner Dütsch gedreht. Dieses Gebiet, dem sein Interesse gilt, wolle er nicht oder nicht nur als Skandinavien oder den Osten bezeichnen, sondern als den Ostseeraum.

Ružička fragt nach was genau ihn an diesem Gebiet interessiere. Koepp erzählt, dass er während seines Physikstudiums in Dresden den Gedichtband „Sarmatische Zeit“ des Lyrikers Johannes Bobrowski in die Hand bekam. Dessen literarische Bearbeitung des Ostseeraums habe bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen. Orte wie die litauische Hafenstadt Memel [Klaipėda] oder die Kurische Nehrung waren zwar vorhanden, man wusste Thomas Mann und Humboldt sind dort gewesen. Gleichzeitig waren diese Gegenden nicht zugänglich und damit wie aus dem Bewusstsein verschwunden. Durch die Gedichte Bobrowskis wurden sie – ohne dass Koepp sie hätte besuchen können – zu einem Lebensthema.

Koepp führt weiter aus, wie die Beschäftigung mit Lyrik seine filmische Arbeit prägte. Als er von der Technischen Universität in Dresden an die Filmschule in Babelsberg wechselte, waren ihm Analogien aufgefallen: zwischen dem Schreiben von Gedichten als Kind oder Jugendlicher und dem dokumentarfilmischen Arbeiten. Für ein Gedicht schreibe man zunächst zwei Zeilen, dann vier, dann vertausche man Reihenfolgen, verändere die Komposition. Diese Arbeitsweise gleiche dem Erstellen von Filmen, in welcher man Einstellungen drehe und in verschiedener Weise zusammenfüge. Dabei käme dann etwas heraus oder auch nicht. Meistens aber doch.

Ružička erkundigt sich, ob Koepp seiner Auffassung sei, SEESTÜCK enthalte – verglichen mit früheren Filmen – besonders viel Biographisches. Koepp weist darauf hin, dass er solche Aspekte in den ersten fünfunddreißig Jahren seines Schaffens konsequent unterlassen habe. Im Gegensatz zu vielen heutigen Studenten, deren erste oder zweite Arbeiten in vielen Fällen Familienfilme seien. Der Film BERLIN–STETTIN (2009) sei Koepps erster gewesen, in dem solche Elemente vorkämen – in Form von Material, das er zwanzig oder dreißig Jahre zuvor gedreht habe. Angesichts der Frage, weshalb er immer wieder an bestimmte Orte zurückkehre, hätte es nahe gelegen, dazu ein paar Hinweise zu geben. Bei SEESTÜCK seien die Bezüge tatsächlich stärker als sonst, allerdings wüsste ja nicht jeder Zuschauer, dass er in bestimmten Gegenden, die darin vorkämen, schon so häufig gedreht habe.

Ružička fragt nach Koepps Vorlieben und Vorgehensweise bei der Wahl seiner Gesprächspartner. Koepp spricht von größeren Bögen, durch die diese Kontakte in der Regel zustand gekommen seien. Da er stets Filme über Menschen mache, die er mag, hätten sich über die Jahre Verbindungen und Netzwerke ergeben. Die Protagonisten in SEESTÜCK wären jedoch alles neue Bekanntschaften gewesen, abgesehen vom Landschaftsökologen Michael Succow aus Greifswald, der bereits in LANDSTÜCK vorkomme. Das habe sich wegen des maritimeren Themas so ergeben. Koepp weist darauf hin, dass nicht alle Kontakte zu Beginn der Dreharbeiten schon hergestellt waren. Ohnehin wäre es nicht günstig, vor Drehbeginn schon alles zu wissen – in anderen Worten: den Film „ausrecherchiert“ zu haben –, da man auf diese Weise nichts mehr erleben könne und nur versucht sei, die eigene Erwartungshaltung zu erfüllen. Das wichtigste beim dokumentarischen Drehen seien jedoch Glück und Zufall. Beim Dreh zu SEESTÜCK habe er sich beispielsweise im Greifswalder Hafen an seine Kindheit erinnert und spontan entschieden, eine Fahrt mit einem alten Schiff zu organisieren. Erst auf dem Meer habe sich herausgestellt, dass der Skipper Romanist sei und wie Koepp Physik studiert habe, sodass er schließlich seinen Weg in den Film fand. Der russische Kant Experte und Professor in Kaliningrad war ihm von einer früheren Begegnung in Erinnerung geblieben, da dieser Gedichte Bobrowskis aus dem Gedächtnis rezitieren konnte. Während der Dreharbeiten sei ihm dieser wieder eingefallen, als er über die örtliche Nähe der Wirkorte von Nikolaus Kopernikus und Immanuel Kant nachdachte. Er habe ihn dann in Kaliningrad ausfindig gemacht und mit ihm gedreht. Für solche Eingebungen müsse man offen sein.

Ružička stellt die These auf, SEESTÜCK sei tonal fatalistischer und pessimistischer als Koepps frühere Filme. Als Nachweis beschreibt er eine Montage, in welcher eine Bewohnerin der Kurischen Nehrung zunächst vehement bestreitet, dass eine Renaissance der Zustände des kalten Krieges spürbar und im Gange sei. Direkt im Anschluss zeigt Koepp sie in ihrem Wohnzimmer, während im Fernsehen spektakulär bedrohlich arrangierte Kriegsberichterstattung läuft. Ein anderes Beispiel seien die harmonischen Naturbilder vom Beginn des Films, denen Koepp die lange Einstellung eines großen Kreuzfahrtschiffes entgegensetzt. Koepp wiegelt ab. Die Beispiele berührten verschiedene Themen. Es hätte zwar die Resonanz gegeben, SEESTÜCK sei sein politischster Film. Das habe man über LANDSTÜCK aber auch gesagt. Er selbst sei der Meinung, auch seine früheren Filme seien politisch. Im Hinblick auf die Frage nach der pessimistischen Note erinnert sich Koepp an seine Reise mit Werner Dütsch Anfang der neunziger Jahre durch das ehemalige Ostpreußen. Er habe damals und auch noch während der Dreharbeiten zu IN SARMATIEN (2013), für die er eine Reise vom schwarzen Meer in die Ukraine unternahm, die Hoffnung gehabt, es könne nun die Freundlichkeit unter den Menschen ausbrechen. Als IN SARMATIEN fertig war, hörte er von der Annektion der Krim. Wie sich die Lage weiter entwickelt sei schwer abzusehen.

Auf seine Arbeit an SEESTÜCK zurückkommend führt Koepp aus, die Ostsee sei historisch gesehen ein wahnsinniger Raum. Zuerst hätten dort die Dänen alles erobert. Dann die Schweden. Dann die Russen. Dann die Deutschen. Da es ein Küstenmeer mit vielen großen Städten ringsherum sei, wollten alle Akteure dieses Gebiet kontrollieren. Das habe zu großen Fluchtbewegungen, Seeschlachten und dergleichen geführt. Man müsse sich nur vorstellen, was da alles an Überresten dieser Ereignisse am Meeresgrund liege. Was die Verarbeitung des Meeres in Landschaftsbildern angeht, so dürfe man nicht vergessen, dass sich im Landschaftsbild immer auch ein Weltbild mittransportiere.

Ružička bietet einen anderen Blickwinkel auf SEESTÜCK an, indem er die Aussagen eines Protagonisten über die Selbstheilungskräfte der Natur als optimistisches Bildungsstatement bezeichnet. Koepp verneint die Absicht, die im Film angesprochenen Probleme auf diesem Wege abschwächen zu wollen. Er bemerkt der Name eines der im Film vorkommenden Boote sei „Hoffnung“ und zieht sogleich die Parallele zu Kaspar David Friedrichs Gemälde „Gescheiterte Hoffnung“, in welchem ein an Eisbergen zerschelltes Schiffswrack zu sehen ist. Kürzlich habe er Viktor Kossakovskys neuen Weltuntergangsfilm über berstende, wegschmelzende Eisberge gesehen [gemeint ist vermutlich AQUARELA (2018)]. Auch eigene Erlebnisse beunruhigen ihn: Zwölf Liter Regen an einer Stelle der Uckermark, an der er sonst Kartoffeln angebaut habe, oder das aktuell schöne Wetter in Duisburg. Das sei für die Jahreszeit eher ungewöhnlich. Koepps Bekannter Michael Succow, Protagonist in LANDSTÜCK wie SEESTÜCK, habe als stellvertretender Umweltminister in der letzten Sitzung vor Auflösung des Staates zwölf Prozent der DDR-Fläche unter Naturschutz gestellt und dafür den alternativen Nobelpreis erhalten. Heute sei er in Äthopien, im Iran und Zentralasien in ökologischer Mission unterwegs, obwohl es inzwischen eigentlich zu spät sei. Das wäre dem Versagen der Politik zuzuschreiben, die es mit dem Verweis auf Arbeitsplätze nicht einmal fertig brächte, den Braunkohleabbau zu stoppen – obwohl es dabei nicht um Arbeitsplätze, sondern um die Zukunft der Menschheit ginge. Im Grunde wüssten ja alle seit Jahren, was mit der Umwelt schief läuft, aber niemand reagiere.

Ružička befragt Koepp zur Verbindung zwischen der Landschaft und Kunst- beziehungsweise Kulturgeschichte und möchte wissen, ob es Koepps Ansicht nach zu plump sei zu behaupten, das Naturschöne aus den romantischen Bildern eines Kaspar David Friedrichs sei Gegenstand oder Gestaltungsprinzip seines Films gewesen. Koepp erklärt, dass es, halte man sich einige Zeit an der Küste auf, relativ leicht sei, Bilder dieser Art zu finden. Bilder, die an den kant’schen Begriff der Erhabenheit der Natur erinnerten oder an Kleists Bemerkung, sie beschrieben immer mehr und es sei mehr dahinter, als man eigentlich sehe. Koepp habe in seinen Filmen Landschaften immer gern verwendet. Sie seien ja auch immer da. Es habe ihn auch gereizt mal einen Film über Landschaften ohne Menschen zu machen. Letzten Endes sei er dabei wieder über Bobrowski gestolpert, der geschrieben habe solche Landschaften existierten nicht.

Aus dem Publikum werden die im Film vorkommenden Gespräche gelobt. Diese seien nicht nur jedes für sich gelungen, sie seien auch untereinander in Dialog getreten. Es wird gefragt, ob Koepp die Protagonisten mehrmals besucht habe, um diese inhaltlichen Verbindungen zu erzeugen. Das sei mit Ausnahme von Succow nicht der Fall gewesen. Ihm seien die Verbindungen zwischen den verschiedenen Redebeiträgen – was zum Beispiel historische oder philosophische Themen angehe – meist erst im Nachhinein oder sogar erst im Schnitt aufgefallen. Koepp fügt hinzu, dass seine Gespräche mit den Protagonisten natürlich viel länger waren als die für den Film gewählten Auszüge. Die Zusammensetzung der Protagonisten in SEESTÜCK unterscheide sich von denen früherer Filme insofern, als er sich früher meist mit so genannten „einfachen Menschen“ beschäftigt habe, also solchen, die täglich einer Arbeit nachgehen. Das könne man auch gut drehen. Mit Leuten zu drehen, die im Gegensatz dazu eher intensiv über etwas nachdenken, sei aber ebenfalls nicht schwer. Diese Erfahrung habe er nun seit ein oder zwei Filmen gemacht. Das habe gute neue Ebenen in seine Arbeit gebracht. Früher sei er nur lieber mit der anderen Art von Leuten zusammengewesen. Alltägliche Arbeitsvorgänge von Menschen zu drehen sei inzwischen jedoch in vielen Fällen langweilig geworden, da sich so große Teile der Arbeiten am Computer abspielen. Wenn man stattdessen einen Philosophen aus Königsberg zuhören könne, der schlicht beschreibe, dass es nicht nur um Wachstum geht, sondern um große gedankliche Entwürfe, sei das viel interessanter. Wachstum sei der Gegenpol zu jeder Idee. Aber Ideen seien natürlich sehr schwer im Film umzusetzen.

Ružička widerspricht und bekennt sich zu jener Fraktion, die SEESTÜCK als sehr politischen Film interpretiert. Das sehe man zum Beispiel an dem pensionierten schwedischen Offizier, der erzähle, wie in der Zeit nach dem kalten Krieg abgerüstet wurde und wie sich das nun wieder geändert habe. Oder in anderer, komplexer Form anhand von Succow, der den Anstieg der Meeresspiegel begrüßt, da er gut für die Sedimente sei, und vernachlässigt, welche negative Folgen dies mit sich brächte. Das gäbe schon Anlass zu einer Prise Pessimismus. Koepp erzählt, wie die politische Lage die Sprechweisen seiner Bekannten über die Jahre verändert habe. Beispielhaft erwähnt er einen Professor aus Stettin, der aus Angst vor beruflichen Konsequenzen bestimmte Themen nicht mehr am Telefon bespricht. Vor zehn Jahren wäre das undenkbar gewesen. Die Zeit nach dem kalten Krieg sei eine große Befreiung gewesen, während die Leute heute wieder Angst davor hätten, aus Ämtern gedrängt zu werden und ähnliches. Das könne einen schon etwas traurig machen.

Ružička erwähnt Koepps Bekanntschaft mit Heiner Müller und fragt nach der Verbindung von Müllers Texten zur Küste. Beispielhaft rezitiert er ein Fragment aus „Die Hamletmaschine“:

ich stand an der Küste

und redete mit der Brandung bla bla

im Rücken die Ruinen von Europa

Alexander Kluge habe gefragt ob Heiner Müller Landvermesser oder Prophet sei. Ružička fragt wie es bei Koepp aussehe. Koepp antwortet, er liebe Landkarten. Er wisse nicht, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er mit fünfundzwanzig Jahren schon in Honolulu hätte drehen können. Nun habe es sich eben so ergeben, dass er im Ostseeraum, im Norden der DDR, selten in Thüringen gearbeitet habe. Von den Gebieten, in denen er war hätte man auch einmal eine Karte für ihn gezeichnet. Was Ružičkas Frage zu Heiner Müller angehe müsse er zunächst an Václav Havel denken. Der habe die nationalistischen Entwicklungen in Europa vorausgesehen. Insofern gäbe es schon Propheten und Heiner Müller sei auch einer gewesen.

Ružička möchte wissen, ob es für Koepp noch neue landvermesserische Richtungen geben wird oder der Kreis ausgeschritten sei? Koepp erwidert, er sei ab Freitag in Wittstock an der Dosse. Eine der Textilarbeiterinnen aus den Filmen, die er dort gedreht habe, sei gestorben, eine gleich nach der Wende nach Süddeutschland gezogen, eine sei noch da. Bis Dezember sei er dort. Da würde man mal sehen.