Synopse
m Umkreis von Geflüchtetenunterkünften: geschlossene Zäune, leere Höfe, Orte verpasster Begegnung. Indessen Angst, die in Sprechweisen des ungefähren Ressentiments eingesickert ist. Gewalt, der mit einem Jargon der Duldung begegnet wird.
Protokoll
Der Titel des Films – NACHBARN – ruft bei Moderatorin Henrike Meyer unmittelbar eine Assoziation zu Kafkas „Der Nachbar“ ins Gedächtnis. Dort erzählt der Autor die Geschichte über den neuen Nachbarn Harras, der für den Ich-Erzähler aufgrund der vehementen Vermeidung eines persönlichen Gesprächs und des permanenten Bezugs von Informationen aus dritter Hand immer mehr zur Bedrohung zu werden scheint.
In ihrem 26-minütigen Kurzfilm „Nachbarn“ beschäftigen sich die Regisseurinnen Pary El-Qalqili und Christiane Schmidt mit den Gedanken der Menschen, die in unmittelbarer Nähe zu Flüchtlingsunterkünften in Deutschland wohnen, auf die in jüngster Zeit ein Anschlag verübt wurde. Die formale Umsetzung ist streng konzeptuell: Auf der Bildebene werden anhand von jeweils zweiminütigen weitwinkligen 360-Grad-Schwenks die einzelnen Anschlags-Orte und deren Umgebung visuell erfasst. Auf der Tonebene wird der Zuschauer mit den Aussagen der Personen konfrontiert, die sich zwischen angstgetriebener Meinungsmache, schlichtem Mitleid und gesellschaftlicher Selbstreflexion bewegen. Die leitenden Fragen der Autorinnen lauteten dabei: Wie sind solche Unterkünfte positioniert und eingebettet? Erinnern die Menschen etwas von der Tat? Und welche Erzählungen stehen individuell im Vordergrund?
Auf die Frage nach ihrer strategischen Vorgehensweise in Bezug auf die Aussagen der „Nachbarn“, beschreibt El-Qalqili den Prozess als „sehr beschwerlich“. Nach einer bewusst sehr direkten Einstiegsfrage nach den konkreten Anschlägen, führten die Gespräche oft in sehr unterschiedliche Richtungen. Einige verweigerten schlichtweg die Aussage. Ebenso erschwert wurde der gesamte Rechercheprozess durch die Tatsache, dass es keine befriedigenden Informationen über die genaue Anzahl von rassistisch motivierten Brandanschlägen in Deutschland gebe. Einzige Anhaltspunkte waren beispielsweise die im Jahr 2015 von der Wochenzeitung „Die Zeit“ publizierte Artikelserie „Gewalt gegen Flüchtlinge“, die Berichterstattung der Amadeu Antonio Stiftung sowie kleinerer lokaler Netzwerke vor Ort. Auch die Lokalpolitik reagierte oft abwehrend auf Anfragen, da in vielen Fällen nicht von offizieller Seite bewiesen war, dass es sich um einen rassistisch motivierten Brandanschlag gehandelt hat.
Besonders viel Raum habe die Suche nach dem geeigneten Standpunkt der Kamera eingenommen, so Schmidt. Darüber hinaus gab es die Überlegung, die 360-Grad-Drehung zu mechanisieren. Die händische Drehung ermöglichte jedoch eine gesteigerte Kontrolle über das Tempo und bot die Möglichkeit, durch leichte Auf- und Abwärtsbewegungen auf die Landschaft zu reagieren.
Das Konzept der Regisseurinnen wird im Verlauf der Diskussion sehr kontrovers diskutiert. Von Seiten des Publikums wird mehrfach kritisiert, dass durch einen solchen Film gerade wieder jenen Menschen eine Plattform gegeben würde, denen auch populistische Medien, wie etwa die „Bild“-Zeitung eine Bühne biete. Darüber hinaus hält es einer der Zuschauer für problematisch, die Geflüchteten selbst nicht zu Wort kommen zu lassen. Der Film gebe den Ängsten der Menschen eine zu starke Stimme und lasse somit keinerlei Raum für Utopien oder Ideale, die diesen Ängsten etwas entgegen setzen. Vermisst würde darüber hinaus eine klarere Haltung, beziehungsweise ein stärkerer Kommentar der Filmemacherinnen. Andere Stimmen loben wiederum die explizite Auseinandersetzung mit diesen Ängsten. Es sei wichtig, genau hinzuschauen und zuzuhören. Einige bedauerten in diesem Zusammenhang die Kürze des Films. Außerdem könne man die populistische Rhetorik einer „Bild“-Zeitung nicht mit der unaufgeregten und nicht-agitierenden Erzählweise des Films gleichsetzen.
Dieser Kritik begegnen El-Qalqili und Schmidt mit der Berufung auf einen explizit deutschen Diskurs mit dem Ziel, zunächst die deutsche Realität anhand einer genauen Beobachtung zu begreifen. Wie genau werden Ängste artikuliert? Welche Sprechweise kommt zum Tragen? Die bewusste Auslassung der Erzählungen von Geflüchteten begründen sie zudem mit ihrer bisherigen Erfahrung, dass diese Stimmen medial oft kein Gehör finden. Mit ihrem Film, so El-Qalqili, erschaffen sie ein Archiv, das die Orte davor bewahre, vollständig in Vergessenheit zu geraten.
Den Vorwurf einer fehlenden Haltung erachten die Filmemacherinnen als unbegründet. Die konzeptuelle Gestaltung der Bildebene und das bewusste Weglassen der Personen im Bild überführt die Aussagen in einen imaginären Raum, der ihre vollständige Dekonstruktion ermögliche. Meyer bemerkt zudem, dass sich durch die immer wiederkehrende visuelle Präsenz von Zäunen und Absperrbändern auch ein Motiv der Grenzüberschreitung etabliere, das die Aussagen der „Nachbarn“ diskursiv einrahme. Auf diese diskursive Rahmung verweist die Moderatorin bereits früher im Gespräch. So wird die Eingangsszene mit der Polizistin am Schreibtisch, die behauptet, dass Geflüchtete hier keine Angst haben müssten, in Anbetracht der tatsächlichen Faktenlage zu einer Schablone, die die Wahrnehmung für das Kommende schärft. „Die Leute entlarven sich selbst“, so El-Qalqili. Ihre filmische Haltung verorten die Regisseurinnen deshalb eher in der präzisen und konnotierten Aufbereitung eines Ist-Zustandes und der damit verbundenen Aufforderung, genau hinzuschauen und sich selbst ein Urteil zu bilden.