Film

Leben – Gebrauchsanleitung
von Jörg Adolph, Ralf Bücheler
DE 2016 | 93 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 40
09.11.2016

Diskussion
Podium: Jörg Adolph, Ralf Bücheler
Moderation: Ivette Löcker
Protokoll: Kerstin Börß

Synopse

Von der Geburtsvorbereitung übers Bewerbungscoaching bis zur Sargberatung mit Probeliegen – eine Biografie in Optimierungsvorschlägen. Guter Rat, berechnete Idealbilder, Testfälle, Dummies und Privatideologien für Unentschlossene: neue Normen gegen die Desorientierung. 

Protokoll

An einem langen Esstisch verschlingen Kinder zusammen Spaghetti. Auf den ersten Blick eine klare Geburtstagsszene – kurz nach Schnitzeljagd oder Spaßbadbesuch. Bei genauerem Anblick könnte es dann auch ein Schulkunstprojekt zum letzten Abendmahl sein. In der Mitte des Tisches ragt zwischen den Kindern eine Erwachsene mit langen wallenden Haaren heraus. „Keiner zieht Spaghetti rein, wir rollen. Isso“, doziert die Frau, während um sie herum vornehmlich genüsslich reingezogen wird. Die Kinderknigge-Episode ist somit eher Übung für ein erstes Abendmahl denn das letzte Abendmahl. Eine Situation, die sich in ein großes Puzzle verschiedenster Übungs- und Therapieszenarien einreiht, welches Jörg Adolph und Ralf Bücheler in Duisburg das erste Mal vor Publikum zeigen.

Das Konzept, auf dem ihr Puzzle, der Film Leben – Gebrauchsanleitung, beruht, ist Leben – BRD von Harun Farocki, den er 1989 machte, entliehen. Im Festivalkatalog nennen es Adolph und Bücheler, die zusammen für Regie, Buch und Kamera verantwortlich sind, ein Update von Farockis Film. „Als Filmstudent war ich Fan von dem Film. Das war der Moment, in dem ich begriff, dass ich Dokumentar-Filmer werden will“, erzählt Adolph. Vor drei Jahren habe er ihn dann wieder gesehen. „Immer noch lustig und singulär, aber die Menschen sahen gestrig aus.“ Mit dieser Erkenntnis begann die Spurensuche. Zunächst haben sie sich die bei Farocki aufgelisteten Drehorte im Abspann vorgenommen, berichtet Bücheler. Wer von Institutionen, Orten, Menschen ist noch da? Ein paar waren noch aufzufinden. So sei die Hebammenschule, die sie jetzt im Film zeigen, zum Beispiel die gleiche wie damals. „Die Psychologin, die in BRD den Scenotest gemacht hat, ist jetzt in einer anderen Position wieder dabei, in der Mediatorenausbildung“, offenbart Adolph eine Referenz in Person. Überdies sind in Leben – Gebrauchsanleitung auch zitierende Schnitte zu beobachten. Wenn der Striptease-Lehrer nach erfolgreichen Tanzversuchen im mit Postern zutapezierten Kellerzimmer zu seiner Schülerin scherzend sagt „ab ins Schlafzimmer“ und in der darauf folgenden Szene eine Matratze zum Test von einer großen Rolle malträtiert wird. Die für Adolph „polemischste Referenz zu BRD“.

Der Name Farocki fällt folglich häufig bei der Diskussion. „Ich finde es sehr schade, dass Harun Farocki nicht hier ist zum Diskutieren. Ich wollte ihn mit der Idee nicht behelligen, bevor die Finanzierung geklärt ist“, sagt Adolph. Er habe dann nach Farockis Tod seine Tochter Annabell gefragt und sie sagte, dass ihr Vater sich bestimmt sehr darüber gefreut hätte.

Trotz der Idee des Updates und der großen filmischen Nähe gibt es vor allem dramaturgische und strukturelle Unterschiede zu Farockis Werk. Ivette Löcker, die die Moderation der Diskussion inne hat, sieht den Film von Adolph und Bücheler als humorvolles Kaleidoskop. Bei der Bandbreite an unterschiedlichen Situationen, die in Lebensbereiche einführen, in denen wir Gebrauchsanleitungen brauchen, frage sie sich, wie Adolph und Bücheler eine Struktur gefunden haben? „Die Geburt ist der Anfang und es endet mit dem Tod“, hält es Bücheler simpel. In der Lebensmitte sei der Film dann nicht mehr chronologisch. „Die Älteren fühlen sich jung, die Jüngeren alt.“ Da dominiere stattdessen die thematische, spielerische Anordnung. Im Film ist diese Dramaturgie eines Lebensbogens auch als Dreiklang des Plastiks wieder zu finden. Am Anfang presst die werdende Mutter ein Plastik- Baby aus einem künstlichen Unterleib. In der Mitte des Films wird dem Unfallopfer aus Kunststoff noch einmal Leben eingepustet, bevor dann am Ende des Films der Plastik-Tote von einem Bestatter – in Hard-Rock-Café-Shirt gekleidet – aus dem Leben verabschiedet wird.

Im Publikum kommt ein Kommentar zu den unterschiedlichen Montageformen der Filme auf: „Farockis Film ist statisch, abstrakter und dadurch irgendwie gruseliger, unheimlicher. Bei euch war es hingegen hemdsärmeliger.“ Den Verlust der Unheimlichkeit in ihrem Update sieht Adolph auch. „Unsere Anfangsidee war, das Konzept einer Einstellung pro Sache intakt zu halten. Viele Sachen ließen sich jedoch nicht anders drehen. Oft mit Schuss und Gegenschuss dem Ganzen genähert“, berichtet Adolph vom Filmen, für das die Beiden zwei Kameras verwendeten. Bücheler ergänzt, dass ihn auch die Komplexität wirklich fasziniert habe: „Die Abläufe der Militärübung will man mit erzählen, das funktioniert nicht in einer Einstellung“. Mithilfe des Beispiels der Militärübung weiß Bücheler auch, auf eine weitere Frage aus dem Publikum zu antworten. Jene nach dem Unterschied zwischen Leben und Gebrauchsanweisung und welche Rolle dabei die Kamera spiele. „Manchmal war der Unterschied zur Realität riesig. Beim Militär haben wir eine Generalprobe zur Vorführung einer Übung gefilmt. Das hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Die Kamera spielte da keine Rolle, die kennen es, beobachtet zu werden. Aber dieses Verhältnis müsste man für jede Szene austarieren.“

Während der Projektion bildeten solch actionreiche Episoden wie die der Militärübung oder solche einer Unfallsimulation kurze Pausen, in denen im Kinosaal nicht gegluckst oder teils auch lauthals gelacht wurden. Ivette Löcker hakt bezüglich des Humors noch einmal ein, da es sich ja schon um bitteren Humor handle, der im Hals stecken bleibe. „Das haben wir selten direkt beim Drehen entdeckt. Wir hatten keine Fremdscham beim Dreh. Die Ernsthaftigkeit aller Beteiligten bewahrte davor, gleich zu spotten“, sagt Bücheler. Adolph erzählt zudem, dass er sich in Seminaren nicht fremd gefühlt habe. „Ich habe mir währenddessen gedacht, ja das kann ich auch noch besser machen.“ Nur bei der Situation in der Stadthalle sei das anders gewesen. Auf einer großen Bühne in einer Stadthalle reckt ein Mann mit orangefarbigem Schweißband auf dem Kopf die Arme in die Höhe und schreit Lebenssinn-Parolen in die Menge, die Sprüchen ähneln, die in Comic-Sans-Schrift auf bunten Postkarten im hintersten Teil eines Schreibwarengeschäfts liegen. Als „Massenhysterie und irgendwie einer traurigen Form von Kirche“ beschreibt Adolph, das was er da erlebte. „Da konnte ich am wenigsten mit anfangen. Aber auch das war wichtig zu zeigen.“

Werner Ružička merkt an, dass das Coaching ja auch schick geworden sei. Dank der verstärkten Lektüre von Foucault, der Sorge um sich selbst, oder des Buchs „Du musst dein Leben ändern“ von Peter Sloterdijk, seien solche Theorien geadelt worden. Man könne nun damit Geld verdienen. „Den Sloterdijk haben alle im Film Vorkommenden gelesen“, bejaht Adolph und illustriert die Coaching-Entwicklung am Beispiel eines Therapeuten aus ihrem Film. Der ältere weißhaarige Herr in Anzug und mit runder Brille auf der Nase war früher Familientherapeut. Das sei ihm aber so mühsam geworden mit den normalen Menschen. Da sei keine Disziplin vorhanden. Jetzt arbeite er mit Sportlern und Managern. „Das ist spannend ,an ihm Wege durch die Therapielandschaft zu sehen. Aber er macht jetzt auch nichts anderes als in den 1970ern, lässt die Leute weiter durch die Stadt hüpfen und Kuckuck rufen“, konstatiert Adolph und erntet in etwa so viele Lacher wie die hüpfenden Manager im Film zuvor.

„Wie sieht es denn mit der Kritik an dem Lebenszeitalter dauernder Perfektionierung aus?“, möchte noch jemand aus dem Publikum wissen. Adolph verortet dieses Thema zunächst als ein Thema, das er lieber im privaten Raume bespreche. „Ich habe da Angst, mich um Kopf und Kragen zu reden“, sagt der Filmemacher, „aber die Entwicklung seit BRD – Leben, diese ganze Disziplinierung, jeder ist selbst verantwortlich, selbst Schuld. Das ist ein Gedanke, der mir Sorge macht.“ Die finale Frage bleibt Eva Witte, ihrer Redakteurin vom SWR, überlassen und diese richtet sie an das Publikum. Ob auch körperlich etwas übergesprungen sei? Hat sich jemand gestreckt? Geschwitzt? Für Adolph wäre das die Wunschvorstellung. Kann ich das auch? „Ein Mitmachcharakter aus dem Film heraus, eine Verlängerung des Kinoraums.“ Bei Ivette Löcker kam ihre Höhenangst zu Tage, als eine Frau während eines Workshops auf einen Baum kletterte. Ansonsten offenbart sich niemand im Publikum. Aber vielleicht sind im Raum auch alle zu sehr auf die Kombination aus Atmen und gerade Sitzen konzentriert und vor der Tür kommt es dann zum hüpfenden „Kuckuck“.