Synopse
Der Blick durch die Videokamera hinab auf das mediterrane Blau nimmt einen undeutlichen schwarzen Fleck wahr: ein „Flüchtlingsboot“. Auf eineinhalb Stunden gestreckt, öffnet das dreieinhalb Minuten lange Video die Meeresoberfläche zum Projektionsraum. Der Ton wandert zwischen Seeleuten, Geflüchteten, Rettern und Touristen; im Bild stellt sich an einem Ort mit präzisen Koordinaten die Standortfrage.
Protokoll
Die audiovisuelle Grundanlage von Havarie beschreibt Moderator und Kommissionsmitglied Joachim Schätz als eine ungewöhnliche Gewichtung von Bild und Ton. Sie zeichne sich durch eine Reduktion der Information auf der Bildebene gegenüber einer an Schauplätzen und unterschiedlichen Quellenlagen reichen Tonebene aus. So überlappen sich die Bilder des gestreckten Handyvideos mit den O-Tönen des eigenen Filmmaterials. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Sofort widerspricht Regisseur Philip Scheffner dem Eindruck einer visuellen Reduktion. Bei insgesamt 5.400 Einzelbildern gebe es durchaus viel zu sehen. Die Voraussetzung für dieses Sehen sei allerdings die Einnahme einer bestimmten Haltung in der Betrachtung – einer Haltung des verzichtenden, sich mit der eigenen begrenzten Einsicht abfindenden Betrachters.
In Scheffners Argumentation im Verlauf der Diskussion zeigt sich die anamorphotische Anlage des Films. Eine Positionsveränderung des Betrachters macht er immer wieder zur Bedingung für das Verständnis des Films. So war Scheffner selbst dieser dialektischen Forderung zum ersten Mal im Moment der Entdeckung des Youtube-Videos ausgesetzt: Er berichtet von seiner Faszination am Ausgangsmaterial und dem Schock, der darauf folgte. Die Schönheit des Bildes, das Blau des Meeres, der Sonnenschein und die Unaufgeregtheit standen für ihn in entsetzendem Kontrast zu der sich plötzlich im Schwenk auf das Kreuzfahrtschiff offenbarenden hierarchischen, streng distanzierten sozialen Situation. Diese eindrucksvolle Erfahrung habe zur Kontaktaufnahme mit dem Macher des Videos, dem in Belfast lebenden Terry Diamond, geführt. Bereits nach zwei E-Mails, so berichtet Scheffner, habe er von dem „emotionalen Reisegepäck“ Diamonds erfahren, der als junger Mann Mitglied der Jugendorganisation der IRA war und in den Kämpfen den Tot seines Freundes miterleben musste. Die Tonsequenz im Film, in der Diamond dieses Erlebnis schildert, stamme aus einem Dreh in Belfast. In weiteren Recherchen haben er und sein Team dann versucht, herauszufinden, wer die Menschen auf dem Boot sind. Es folgten Dreharbeiten in Algerien, auf dem beteiligten Passagierschiff Adventures of the Sea und auf einem Containerschiff auf dem Mittelmeer. Als Scheffner dann im Sommer 2015 anfangen wollte, den Film zu schneiden, habe er gefühlt, dass irgendetwas nicht stimmte. Die mediale Aufmerksamkeit sei zu diesem Zeitpunkt in erheblichem Maße auf „Boote im blauen Meer“ ausgerichtet gewesen, was diesem Bild eine sehr starken Präsenz einbrachte. Dadurch sei die Gefahr entstanden, dass das Ausgangsmaterial in einen bestimmten Kontext hineinarbeitet.
40. DUISBURGER FILMWOCHE Diskussionsprotokoll No. 11
Havarie Seite 2
Das wäre, so Scheffner, das Gegenteil von seiner ursprünglichen Absicht gewesen. Er habe mit dem Film vielmehr einen Raum der Konzentration eröffnen wollen, der ein Hinterfragen der eigenen Position ermöglichen soll. Die Betrachter sollten die Möglichkeit erhalten, sich mit dem Gezeigten in Beziehung zu setzen. Er habe klären wollen, ob es möglich ist, den hierarchischen Blickwinkel mit filmischen Mitteln für einen Moment zu zerstören oder ihn ins Schwingen zu bringen, um eine Augenhöhe der Beteiligten herzustellen ohne dabei das Machtgefälle zu verschleiern. So sei die Idee zur Verlangsamung des dreieinhalb-minütigen Videos auf die 90 Minuten, die der Zeit bis zur Ankunft des Rettungshubschraubers entsprechen, entstanden. In der Folge habe diese Entscheidung zu einer Konzentration auf die Tonebene der Drehaufnahmen geführt. Mit dem Ergebnis ist Scheffner zufrieden. Viel näher als es mit selbst gefilmtem Bildmaterial möglich gewesen wäre, sei er jetzt der Ausgangsidee des Film gekommen.
Moderator Schätz verweist auf die Parallele zum diesjährigen Programmbeitrag Un solo colore von Joerg Burger. Auch hier habe die mediale Situation im Sommer 2015 zu einer Zäsur im Schaffensprozess geführt. Die Entstehungszeit eines Dokumentarfilms ermögliche scheinbar eine Einschreibung der Geschichte in seine Umsetzung. Havarie zeichne sich durch die Momente aus, in denen das Unkenntliche und Schöne dazu führt, dass einzelne Bilder in die Abstraktion verfallen. Diese Momente bieten aus Sicht von Schätz keinen Ansatzpunkt für das gelernte racial profiling der ZuschauerInnen. Sie verhindern einerseits die Flucht der BetrachterInnen in essentialisierende Versuche, die Herkunft der Bootsinsassen zu ergründen, und wehren sich andererseits gegen eine Individualisierung des Problems durch Einzelgesichter. Die Ambivalenz des Films zwischen Abstraktion und Dokumentation sei nicht nur hergestellt sondern auch im Ausgangsmaterial bereits enthalten. So werde beispielsweise der vorgefundene Schwenk auf das Kreuzfahrtschiff über eine hergestellte Einspielung der Tonaufnahmen vom Schiff verstärkt.
Moderator Schätz fragt, inwieweit das besondere Vorgehen zum Beispiel im Vergleich zu Scheffners Film Revision (df 2012) eine ganz andere Art der Recherche erfordert habe. Den Verlauf dieser Recherche stellt Scheffner im Folgenden detailliert dar. Zunächst habe er versucht, Faktisches über das Boot herauszufinden. So habe er die Namen der 13 Männer aus Algerien ermittelt. Sie seien direkt nach ihrer Rettung in eines der größten Abschiebegefängnisse Spaniens gebracht und von dort nach einem Monat nach Algerien abgeschoben worden. Von hier aus wollte Scheffner die Spur der Männer weiterverfolgen. Weil sie dafür mit Menschen hätten zusammenarbeiten müssen, mit denen sie nicht kooperieren wollten, wurde dieser Plan nicht weiterverfolgt. Eine Öffnung des Feldes hin zu der Frage, wer potentiell an der Situation hätte beteiligt sein können, sei ihnen angemessener erschienen. So kam es zu dem Dreh auf dem Containerschiff, das regelmäßig auf der Strecke zwischen Algier und Cartagena verkehrt. Seine MitarbeiterInnen, die für die Beratung und Recherche in Algerien zuständig waren, haben ihm den Kontakt zu ihrem Schulfreund vermittelt. Bei einem Gespräch an einem sicheren Ort, einem Kino in Algerien, habe Scheffner sofort dessen unaufgeregte Art und Weise, über seine Erlebnisse zu berichten, gefallen. Erst daraus ergab sich der Dreh mit der Frau dieses Protagonisten in Frankreich. Die Tonaufnahmen im Film seien das Ergebnis dieses prozessualen Vorgehens und der vielen Umwege in der Recherche.
Moderator Schätz lobt die Art und Weise, in der der Ton die Bilder, die der Zuschauer meint zu erkennen, immer wieder neu befragt. Die Zentrifugalkraft des Kameraschwenks verweise zuerst auf die eigene Position und stelle erst darüber eine Verknüpfung zum Außen der Situation her. Für Schätz besteht allerdings die Gefahr, dass das Bild des Boots hier überlastet wird. Es drohe zu kippen: Nicht unterdrücken könne er eine gewisse Angst vor der Monumentalisierung des Bildes. Dass es sich um eine stolze Geste handelt, ist Regisseur Scheffner durchaus bewusst. Die von Schätz beschriebene Gefahr haben er und sein Team in vielen Sichtungen besprochen und durch eine Vorsicht bei der Aufladung über den Ton verhindert. So sei es wichtig, dass die ProtagonistInnen in ihren Berichten über erschütternde Geschehnisse sprechen, die sie vor ihrem inneren Auge sehen – Situationen, die sie beobachten mussten aber nicht beeinflussen konnten. Sie mussten damit umgehen, festgenagelt und zum Zuschauen verdammt zu sein. Zudem, gibt er zu bedenken, sei das Bild in sich zu komplex und widerspenstig für Monumentalisierungen.
Diskussionsteilnehmer Michael Girke hat den Eindruck, das Ticken der Uhr bei jeden Bildwechsel, das am Anfang deutlich zu hören war, erstrecke sich über den ganzen Film. Müsse man den Film mit dem Auge hören, fragt er. Dass die Streckung des Videos auf 90 Minuten ein Intervall von ungefähr einem Bild pro Sekunde ergebe, sei ein großartiger Zufall, findet Scheffner. Bei den Interview-Aufnahmen habe er immer wieder vorhandene Uhren bewusst im Raum belassen und die O-Töne dann entsprechend montiert, sodass das Ablaufen der Zeit tatsächlich den ganzen Film über immer wieder auftaucht. Moderator Schätz meint sogar, einen Herzschlag gehört zu haben. Den Herzschlag der Protagonistin habe er erst in der großen Tonmischung herausgehört, berichtet Scheffner. Für ihn ist er ein Ausdruck dafür, wie die sehr reale Imagination sie in dem Moment des Berichtens emotional mitgenommen hat. Dieses „interne Zeitmaß“ (Schätz) ergänze dasjenige, das den ZuschauerInnen über die Echtzeit der Funkdurchsagen mitgegeben wird.
Großartigen Zufällen, so Schätz, schulde der Film noch einen weiteren wichtigen Moment. Während der Kameraschwenk den Umraum des Standpunktes preisgebe, werde die mediale Grundlage des Videos vermutlich auf Grund der Sonneneinstrahlung angegriffen, sodass Farbveränderungen und weitere Unkenntlichkeiten entstehen. Bedenken habe er allerdings im Bezug auf den Einsatz des Songs in dieser Situation. Schaffe die ironische Urlaubsatmosphäre dieses Tons nicht einen Versuch der Denunziation, in dem den ZuschauerInnen hier die Möglichkeit gegeben wird, sich von den Kreuzfahrt-Touristen abzugrenzen. Das Klischee des „dummbatzigen“ Kreuzfahrers werde allein schon durch den Protagonisten Terry Diamond unterlaufen, wendet Scheffner ein. Er entspreche diesem Bild in keinster Weise. Diskussionsteilnehmer Michael Girke springt Scheffner zu Seite, indem er auf den Songtext verweist. Schon zuvor sei der Refrain, der von „lost souls“ erzählt, vorgestellt worden. Die Musik habe eher die Funktion, einen ähnlichen Tonraum zu erschaffen wie ihn Diamond als Passagier erlebt haben muss, erklärt Scheffner. Der auf den Phillipinen sehr beliebte Popsong sei von der „Blue Waters Band“ ausgesucht und eingespielt worden, die zur Zeit des Drehs auf der Adventures of the Sea für die Unterhaltungsmusik zuständig war. Er habe die philippinischen Musiker aufgefordert, ein Lied zu spielen, das sie sonst nicht spielen dürfen. Die Crew des Containerschiffes, auf dem später gedreht wurde, habe in einer Karaoke- Session nach Dienstschluss ebenfalls dieses Lied angestimmt. Diese Aufnahme ist früher im Film zu hören.
Zuletzt wird über die Produktionsbedingungen gesprochen, über den mutigen Schritt, die Zäsur im Schaffensprozess gegenüber den Geldgebern zu verteidigen. Da er und Merle Kröger selbst die Produzenten des Films seien, war Courage vor allem notwendig, um die Angst vor der eigenen Idee zu überwinden, erklärt Scheffner. In einem Urgency-Treffen mit den KoproduzentInnen habe es positives Feedback gegeben. Das vertrauensvolle Verhältnis zu arte-Redakteurin Doris Hepp, die sich in der Lage sah und auch schnell bereit erklärt hat, das Projekt intern zu vertreten, sei sehr wichtig gewesen. Die Solidarität des Verleihs und die Zusage zur Berlinale ebenfalls.
Was mit dem gedrehten Bildmaterial jetzt passiert, weiß Scheffner noch nicht. Er denke über eine Installation nach, ohne allerdings bisher eine überzeugende Idee gehabt zu haben. Es gebe allerdings bereits unterschiedliche Formate der medialen Auswertung zwischen Dokumentation und Fiktion. So sei im letzten Jahr der auf den Recherchen basierende Kriminalroman Havarie von Merle Kröger erschienen.