Film

Souvenir
von André Siegers
DE 2014 | 85 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 38
05.11.2014

Diskussion
Podium: Bernd Schoch (HfbK Hamburg), Pepe Danquart (HfbK Hamburg)
Moderation: Pary El-Qalqili
Protokoll: Sarah Ben Hardouze

Synopse

Dr. Alfred Diebold spricht in die Kamera, hält alles fest. Seine Urlaube in der Wüste, im Eis, in den Staaten dieser Welt; seine Arbeit für die Stiftung, die SPD; seine Liebe zu Betti; seine Einsamkeit. Gespräche mit Schmidt, Kosslick, sich selbst. Briefe an Slawa, den Freund. 

Protokoll

‚Ein Mann und seine Kamera. Hunderte Stunden Material. Fragmente. Souvenirs. Eine Auseinandersetzung mit dem privaten Videoarchiv eines Stiftungsmitarbeiters‘. So beschreibt André Siegers seinen Film ‚Souvenir‘ im Festivalkatalog der Duisburger Filmwoche. Zu Vorführung und Diskussion hat er wegen Krankheit nicht erscheinen können. Bernd Schoch und Pepe Danquart, die das Projekt betreut haben, vertreten ihn. Der Film beginnt mit dem Satz: Das ist Alfred Diebold. Doch wer ist dieser Mann, der scheinbar jeden einzelnen Tag seines Lebens mit der Videokamera dokumentiert und einen so persönlichen Umgang mit ihr hat, dass es manchmal schwer auszuhalten ist. Ist er eine reale Person? Sind die Aufnahmen inszeniert? Handelt es sich um ein ‚Fake‘? Dies sind die Fragen, die das Publikum von Beginn an beschäftigen. Und was ist das für ein Film, fragt Pary El-Qalqili. Eine Biographie, eine Konstruktion? Diese Frage richtet sie auch ans Publikum. Eine Zuschauerin äußert Zweifel daran, dass sich Siegers im Film an Tatsachen und Chronologien gehalten habe. Sie erwähnt die Schlussszene, in der es heißt, Diebold sei während einer Expedition im Eis der Antarktis verschollen. Dann trottet ein Polarbär durchs Bild. Die gebe es aber in der Antarktis nicht und das habe sie gestört, sagt sie. Bernd Schoch erläutert, dass es sich hierbei um einen bewusst von Siegers gesetzten Hinweis handle. Denn Dr. Alfred Diebold sei eine reale Person, der Erzählrahmen des Filmes allerdings sei konstruiert.

Zu den Fakten: Alfred Diebold ist passionierter Videofilmer. ‚Souvenir‘ führt durch zwanzig Jahre seines Lebens, in denen er über vierhundert Kassetten Filmmaterial angesammelt hat. In den neunziger Jahren drehte er im Zusammenhang mit seiner Stiftungsarbeit Imagefilme. Später dokumentierte er vor allem seine vielen Reisen und sein Privatleben. Alfred Diebold und André Siegers lernten sich kennen, als Diebold ihn anheuerte, seinen Wahlkampf als SPD-Kandidat für das Europaparlament mit der Kamera zu begleiten. Nachdem sie sich besser kennengelernt hatten, vertraute Diebold ihm seine umfassende Materialsammlung an und gab ihm die Erlaubnis, sie für ein Filmprojekt zu verwenden. Begrenzende Auflagen habe er Siegers nicht gemacht, berichtet Danquart. Diebold sei vielmehr stolz gewesen, dass sich jemand für sein Leben und seine Filme interessierte. Über eineinhalb Jahre habe Siegers gebraucht, um die vielen Stunden Material in den Griff zu bekommen und ihnen eine Form zu geben. Einen erzählerischen Rahmen verlieh er seiner Arbeit, in dem er einen fiktiven Erzähler namens Slawa einsetzte. Slawa liest aus Briefen vor, die er angeblich von Diebold erhalten habe und in denen er von den verschiedenen Stationen seines Lebens berichtet. Diese seien jedoch von Siegers geschrieben und von einem Sprecher gelesen worden, erklären Schoch und Danquart. Die Figur Slawa sei inspiriert von einem polnischen Freund Diebolds, der denselben Namen trage. Der Inhalt der Briefe habe seinen Ursprung in Unterhaltungen, die Diebold und Siegers führten.

Die Herausforderung des Materials an den Filmemacher habe in der besonderen Ausgangssituation gelegen, sagt Danquart. Zum einen handle es sich bei ‚Souvenir‘ um einen Found-Footage-Film. Andererseits ist der Film eine Auftragsarbeit, von der der Protagonist erwartet haben muss, dass er entsprechend seiner Selbstwahrnehmung repräsentiert werden würde, vermutet eine Zuschauerin. Für Siegers sei dies zu einer Gratwanderung geworden, denn es wäre leicht gewesen, Diebold durch das Material bloßzustellen, fährt Schoch fort. Der Regisseur habe es aber geschafft, ein sensibles Portrait über einen besonderen Menschen anzufertigen. Ein Zuschauer will wissen, wie Diebold reagiert habe, als er den fertigen Film das erste Mal sah. Er sei zunächst schockiert gewesen, berichtet Danquart. Eine so deutliche Darstellung seines Lebens habe er nicht erwartet. Während der Premiere habe er das Kino verlassen, als im Film Aufnahmen zu sehen waren, die Diebold von seiner Freundin nach ihrer Krebsdiagnose, sowie vor und nach ihrem Tod gemacht hatte. Die fiktionale Rahmenhandlung des Films sieht es vor, dass auch Diebold am Ende stirbt. Ob dies Diebold nicht auch schockiert habe, fragt eine andere Publikumsstimme. Nein, sagt Schoch, Diebold habe im Vorfeld über diesen Aspekt Bescheid gewusst. Er vermute aber, dass er im fertigen Film erstmals begriffen habe, wie intim die Aufnahmen seien, die er angefertigt habe. In ihnen moderiert und inszeniert Diebold sich und sein Leben und hat meist eine sehr konkrete Vorstellung davon, wie seine Bilder aussehen sollen. Wenn er nicht zufrieden ist, wiederholt er die Aufnahmen, bis sie sitzen. An diesen Stellen zeige sich für Siegers, dass Diebold nicht nur versucht habe, die Realität abzubilden, sondern an der Herstellung eines Selbst- und Weltbildes gearbeitet habe, zitiert Danquart das Statement des Regisseurs im Festivalkatalog.

Werner Ružička erklärt, dass die Auswahlkommission sich lange mit dem Film beschäftigt habe. Man habe sich gefragt, wie jemand dazu komme, sein Privatleben in einer Form zu verwerten. Diebold müsse den Wunsch verspürt haben, sich in die Öffentlichkeit einzuschreiben. Wenn er beruflich im Ausland, etwa in Nepal unterwegs sei, zeige er sich als „weißer Heilsbringer“, der Demokratie und Wohlstand über die Menschen bringe. Der Imperialismus des Bildes sei der eigentliche Skandal, sagt Ružička. Ein anderer Zuschauer nimmt Diebold in Schutz. Er glaube, dass das Filmen Ausdruck einer Einsamkeit sei.

Ob man nicht aber Diebolds Lebensgefährtin Betti vor ihm und vor uns hätte schützen müssen, fragt Ružička. Sie habe Diebold ihre Trauer über ihren bevorstehenden Tod preisgegeben, sich aber nicht zwangsläufig einem Filmpublikum offenbaren wollen. Hätte man nicht verhindern müssen, dass diese Bilder im Film landen? Natürlich fordere diese Episode vom Filmemacher eine besondere Sensibilität, sagt Schoch. Hätte er nicht das Gefühl gehabt, dass Diebold seiner Freundin Betti in diesen Szenen mit Zärtlichkeit begegne, hätte er Siegers davon abgeraten, sie im Film zu verwenden. Danquart findet, dass man im Dokumentarfilm über alles sprechen könne. Wenn Diebold über Bettis Tod weine, erschienen ihm seine Emotionen als aufrichtig, und er bekomme nicht das Gefühl, dass hier jemand ausgestellt werde.

Am Ende der Diskussionsrunde fragen sich manche, ob die von Slawa gelesenen Briefe notwendig gewesen seien, und ob sie den Film qualitativ bereicherten. Schoch erklärt, dass Siegers den Erzähler Slawa auch dazu genutzt habe, Diebolds Stimme eine weitere Ebene zu verleihen. Eine Zuschauerin merkt an, dass die Briefe auf sie wie handschriftlich verfasste Botschaften wirkten und einer anderen Zeit anzugehören schienen, als die Videoaufnahmen, die sie an Selfies erinnerten. Dies ergebe für sie keine gestalterische Einheit. Eine andere Stimme aus dem Publikum stellt das Gegenteil fest. Die Filmbilder wirkten wie ein Videotagebuch, dazu passe der Stil der Briefe. Danquart folgert schließlich, dass man im Dokumentarfilm alles dürfe, man müsse es nur gut machen und das sei Siegers gelungen.

Plötzlich betritt Werner Ružička das Podium. Es sei Zeit das Geheimnis zu lüften, verkündet er. Die Behauptung, André Siegers sei dem Filmfestival wegen einer Krankheit ferngeblieben, sei eine Lüge. Siegers gebe es gar nicht, er sei nur eine Erfindung von Alfred Diebold. Einen kurzen Moment lang herrscht Stille im Saal. Nein Quatsch, sagt Ruzicka und das Publikum ist erleichtert.

 Pary El-Qalqili, Bernd Schoch, Pepe Danquart v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Pary El-Qalqili, Bernd Schoch, Pepe Danquart v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald