Film

Ruina
von Markus Lenz
DE 2014 | 73 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 38
08.11.2014

Diskussion
Podium: Markus Lenz
Moderation: Till Brockmann
Protokoll: Sarah Ben Hardouze

Synopse

Torre de David, Caracas. Der Bau nach vier Jahren abgebrochen, ragt er 45 Stockwerke in den Himmel. Besetzt von den Bewohnern der Armenviertel, entsteht eine vertikale Stadt, der Versuch einer selbstbestimmten Mikrogesellschaft. Inmitten des Finanzdistriks. Statt Fassade gemauerte Brüstungen. Aussicht auf Zukunft? 

Protokoll

Als er es das erste mal sah, sei es ihm wie ein Monstrum vorgekommen, sagt Markus Lenz über das ‚Centro Financiero Confinanzas‘. Mit 45 Stockwerken ist es das drittgrößte Gebäude Venezuelas und sollte zum repräsentativen Sitz einer Großbank werden. Doch die Bank ging während der Wirtschaftskrise pleite und der Bau am Wolkenkratzer wurde gestoppt. Er habe davon gelesen, dass der Turm, wie Lenz das Gebäude nennt, von Bewohnern der Slumviertel besetzt wurde und sei fasziniert gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war er Student an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Ein glücklicher Zufall habe ihn schließlich ’näher an den Turm herangespült‘. Er habe die Möglichkeit bekommen, mit einem Stipendium nach Kolumbien zu reisen. Von dort aus fing er an zu recherchieren. Sein Film beginnt mit einer Außensicht auf den ewigen Rohbau des Bankgebäudes, der zu diesem Zeitpunkt von mehr als 2500 Menschen bewohnt wurde. Die fehlenden Fassaden haben sie durch Zieglsteinmauern ersetzt, Wäsche trocknet in den Fenstern. Ein Anwohner aus der Nachbarschaft steht mit dem Rücken zu dem Koloss und beschwert sich. Der Turm sei ein Hort der Kriminalität, verdreckt und gefährlich, eine Schande für die Stadt. Obwohl das Gebäude auch auf ihn gespenstisch gewirkt habe, habe er wissen wollen, was auf den vielen Etagen vor sich gehe, sagt Lenz. Er sei sich sicher gewesen, dass es nicht so einseitig sein könne, wie von Medien und Gegnern behauptet wird. So begannen er und sein Kameramann Leonardo Acevedo ihre Arbeit in der Hoffnung, am Ende ein authentisches Bild von diesem unüberschaubaren Ort zeichnen zu können.

Till Brockmann fragt, wie es ihnen gelungen sei, Zugang zum Gebäude zu bekommen, denn im Film sehe man verriegelte Außentüren und einen hausinternen Security-Dienst. Zuerst habe er es über Kontakte zum venezolanischen Fernsehen versucht, erklärt Lenz. Wegen der negativen Berichte seien die Bewohner allerdings misstrauisch gewesen und hätten befürchtet, dass auch er sie negativ darstellen würde. Dann habe er versucht, auf eigene Faust mit Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Es sei schwer gewesen, sie von seinem Projekt zu überzeugen. Brockmann merkt an, das Haus im Film wirke wie das Gegenteil dessen, was die Bevölkerung und die Medien anzunehmen scheinen. Die Flure und Treppenhäuser würden sauber wirken und von Gewalt und Kriminalität erfahre man nur in Gesprächen. Er fragt, ob Lenz diese Schattenseiten bewusst ausgespart habe, um ein Gegenbild zu den Vorurteilen zu entwerfen, oder ob Gewalt und Dreck im Turm tatsächlich nur ein Mythos seien. In der Zeit, in der sie dort gewesen seien, habe es keine gewalttätigen Auseinandersetzungen gegeben, sagt er. Ausserdem sei es tatsächlich so sauber wie im Film gezeigt. Die Hausordnung werde strengstens verfolgt und wer seinen Aufgaben nicht nachkommt, werde, wie im Film zu sehen, mit Sanktionen bestraft. Natürlich gebe es auch Schwierigkeiten, bemerkt Lenz, gerade in den unteren Geschossen herrsche ein übler Geruch, da die Abwasseranlagen nicht regelmäßig von den Stadtwerken gesäubert würden. In den oberen Etagen und außerhalb des Turms merke man davon aber nichts.

In seinem Statement im Festivalkatalog der Duisburger Filmwoche beschreibt Lenz das Gebäude und seine Bewohner als sozialistische Mikrogesellschaft. Um die Strukturen im Haus zu erklären, zeichnet eine Protagonistin im Film eine Organisationspyramide. An der Spitze stehen die Direktoren, unter ihnen die Delegierten. Jede Etage hat einen Koordinator und regelmäßig werden Plenarsitzungen abgehalten. Die Protagonistin selbst gehöre als Sekretärin der Direktion an, erklärt Lenz. Sie sei seine Ansprechpartnerin im Haus gewesen und habe ihn und Kameramann Acevedo mit den Bewohnern in Kontakt gebracht. Obwohl sie zuerst versucht habe, zu kontrollieren was sie im Haus taten und filmten, hätten sie es im Verlauf der Zeit geschafft, sich mehr Freiheiten zu erkämpfen. Bei den Dreharbeiten habe dann eins zum anderen geführt. Lenz liest eine Passage aus seinem Tagebuch vor, die einen typischen Tag schildere. Statt Schlaf habe es eine nächtliche Vollversammlung gegeben, nachdem auf einer Etage das Schwarze Brett von einem Unbekannten angezündet worden war.

Auffällig sei, dass die meisten Protagonisten Frauen sind, sagt Brockmann. Dies sei kein Zufall, erläutert Lenz. Von 23 Delegierten seien 21 Frauen. Sie steuerten die Abläufe im Turm, während die Männer für die groben Arbeiten zuständig seien. Ein Zuschauer sagt, er habe die Abwesenheit von Männern als positiv empfunden. Auf ihn habe der Film wie eine Art Geisterfilm gewirkt: Chavez tauche nur auf dem Fernsehbildschirm auf und erinnere an einen Geist, eine junge Bewohnerin spreche vom Mord an dem Mann, der die Hausbesetzung angeführt habe, und im Interview mit dem Architekten des Gebäudes erzähle dieser von seinem Scheitern. Brockmann merkt an, er habe den Architekten wie einen Fremdkörper empfunden. Lenz erklärt es sei wichtig gewesen, ihn in den Film einzubinden. Auch der Turm sei ein Protagonist des Films, deswegen habe er mit seinem Schöpfer sprechen wollen. Dieser verurteile die Hausbesetzung zwar, so wie die meisten Außenstehenden auch, für den Architekten handele es sich aber um eine persönliche Geschichte, denn der Turm sei einmal ’sein Baby‘ gewesen. Hugo Chavez sei von vielen Bewohnern als Schutzpatron gesehen worden. Im Film wird per Voice-over ein Brief vorgelesen, in dem die Hausbesetzer Chavez um seine Unterstützung bitten. Auf einer Texttafel am Ende wird erklärt, dass Chavez nie auf den Brief reagiert habe. Eigentlich habe er nicht gewollt, dass Chavez im Film vorkommt, sagt Lenz, schließlich werde er immer thematisiert, wenn es um Venezuela geht. Doch viele Bewohner glaubten, dass er die Besetzung ermöglicht habe, und sie hätten sich viel von dem Brief erhofft. Für Lenz sei der Brief vor allem ein weiterer Ausdruck für das politische Bewusstsein der Gemeinde.

Ein Zuschauer fragt, warum er den Film Ruina genannt habe, schließlich repräsentiere das Haus eher einen Aufbau als einen Zerfall. Ähnlich wie mit dem Beginn des Filmes habe Lenz mit dem Titel eine falsche Fährte legen wollen. In seinem Verlauf werde man eines Besseren belehrt. Sie sei fasziniert davon gewesen, wie sich die Menschen im Haus selbst organisieren, sagt eine Zuschauerin und fragt, ob die Architektur des Gebäudes möglicherweise einen strukturgebenden Effekt auf die Hausgemeinschaft gehabt habe. Lenz überlegt. Es stimme, dass jede Etage im Grunde ein eigenes Dorf sei. Brockmann glaubt, der Turm sei leichter zu überwachen, weil er vertikal ist. Vor allem könne man kontrollieren wer hineinkommt. Manche Koordinatoren seien allerdings für mehrere Etagen zuständig, bemerkt Lenz, dann werde das Vertikale schnell wieder wieder zum Problem. Aus dem Publikum wird nach den vielen Vögeln gefragt, die im Film zu sehen sind. Am Himmel ziehen die Geier ihre Kreise, ein Bewohner präsentiert der Kamera seinen Papagei. Ob die Vögel eine symbolische Bedeutung hätten, fragt jemand. Die Geier seien in der Stadt allgegenwärtig und lebten auch auf dem Dach des Turmes, erläutert Lenz. Von dort aus machten sie Jagd auf Tauben, die Zuflucht in den Mauerrillen suchten. Dies sei für ihn eine Metapher für die Situation der Menschen, die im Haus Schutz suchten, vor den Mächten, von denen sie bedroht werden.

Im Sommer 2014 habe die Regierung begonnen, das Gebäude zu räumen und die Bewohner in soziale Wohnprojekte fünfzig Kilometer außerhalb der Stadt auszusiedeln, berichtet Lenz gegen Ende der Diskussion. Nicht alle seien darüber traurig, denn für viele sei das Ziel der Besetzung gewesen, Zugang zu sicherem und bezahlbarem Wohnraum zu bekommen. Andere allerdings verlören durch den Umzug ins Randgebiet ihre Einkommensquelle. Auch wenn sein Film nun wohl nichts mehr an der Umsiedlung ändern könne, empfinde er ihn als ein wichtiges Dokument in einem Dialog, der über die Besetzung des Confinanzas-Gebäudes hinausreiche. Er hoffe, Ende November ein Screening im Turm veranstalten zu können. Hierzu fehlten allerdings noch die Mittel. Wer Ideen habe oder passende Förderprogramme kenne, könne sich gerne bei ihm melden, sagt Lenz.