Extra

Hans-Dieter Grabe im Gespräch mit Gabriele Voss

Duisburger Filmwoche 38
06.11.2014

Podium: Hans-Dieter Grabe
Moderation: Gabriele Voss
Protokoll: Svenja Klüh

Die Genauigkeit seiner Recherchen, die Präzision seiner Fragehaltung und der unbestechliche Blick auf die Wirklichkeit seiner Sujets machen Hans-Dieter Grabes Stil unverwechselbar. 3sat lädt zu einem Gespräch, das die Besonderheiten seiner filmischen Arbeit thematisiert, sie in den Kontext der Entwicklung des Dokumentar­films im Fernsehen stellt und vor allem der Interviewkunst Grabes Aufmerksamkeit schenkt. 

Protokoll

„In einer Momentaufnahme kann man nicht sehen, was eine Verletzung bedeutet“

Sie hätten ja auch zwischendurch mal gesprochen, sagt Gabriele Voss zu Hans-Dieter Grabe, aber mit diesem Autorengespräch könnten sie an das 1998 begonnene Gespräch in Lieber weniger als viel anknüpfen. Den Film habe sie noch einmal angeschaut und Grabe sage darin den schönen Satz: „Ich sehe nicht das Ende der Arbeit, und ich sehne es auch nicht herbei.“ Wenn es um die Anfänge seiner Arbeit ginge, so habe er schon während des Studiums in der DDR entschieden, Dokumentarfilme machen zu wollen. Woher diese frühe Entschiedenheit gekommen sei? Der anspruchsvolle Beiklang, der da mitschwinge, sei mehr der Not geschuldet gewesen, sagt Grabe, und den fehlenden Lebenserfahrungen. Er sei mit 18 Jahren an die Filmhochschule gekommen, was das Regelwerk nicht vorsähe – die wollten Leute, die mehr wüssten. Und er wusste, dass es ihm an Lebenserfahrung mangeln würde, um Spielfilme zu machen. Er hätte damals die italienischen Neorealisten sehr gemocht, und ihre Art, die Wirklichkeit darzustellen – doch die Möglichkeiten, daran anzuknüpfen, schienen sehr weit weg. Bei einem Dokumentarfilm konnte man einfach die Kamera auf einem Marktplatz aufstellen und der Lebenswirklichkeit sehr nahe kommen. In der DDR hätten sie ja lernen sollen, eine Utopie zu sehen, nicht die Wirklichkeit. Dokumentarfilme zu machen, sei eine bewusste Wegwendung davon gewesen. Lügen im Dokumentarfilm leichter entlarvbar.

Wozu ist der Dokumentarfilm da? Flaherty: Er ist dazu da, das Leben so zu zeigen, wie es gelebt wird. Voss merkt an, man könne in einem Dokumentarfilm vieles machen und ob das dann immer dabei rauskäme (das Leben so zu zeigen, wie es gelebt wird), sei fraglich. Doch Grabe sei diesem Gedanken immer treu geblieben. Er habe als Fernsehregisseur eine bestimmte Kenntlichkeit seiner Filme entwickelt, einen informativen und aktuellen Teil immer mit Geschichte und Leben verbunden, mit „erlebter und erlittener Geschichte“. Dabei interessiere ihn ein einzelner Mensch, er habe auch nicht mal da, mal dort gedreht, sondern sei zu Menschen und Orten zurückgekehrt. Manche Arbeiten seien über Jahre entstanden. Das sei beispielhaft für was man sich erträume, was im Fernsehen möglich sein könnte. Grabe ergänzt, dass Fernsehen ein ganz wichtiges Format sei. Gerade für den Dokumentarfilm, der rau sein könne oder schnell, lang oder kurz – es wäre immer möglich, einen Sendeplatz finden; es gäbe eine Offenheit des Fernsehens für dokumentarische Formate. Es gäbe allerdings auch ein Missverhältnis. Dokumentarfilm sei damals etwas Unbekanntes, Fremdes gewesen, nicht verstanden worden. Was denn nicht verstanden werden würde, fragt Voss nach. Die Leute seien von Rundfunk, Zeitung und der dpa gekommen, erklärt Grabe. Nur was im Wort auszudrücken war, schien ihnen nachvollziehbar. Dass ein Zuschauer aus Bildern, O-Tönen und Atmosphäre ein Verständnis kreieren könne, diese Erfahrung hätten sie bei sich selbst nie gemacht. Die Liebe zum Dokumentarfilm nicht gespürt.

Auf einen Filmausschnitt aus Die Helgoland in Vietnam (1966) fragt Voss Grabe nach der Notwendigkeit, Kriegswunden (hier in erster Linie die physischen) so zu drehen und dem Zuschauer zuzumuten? Grabe antwortet, es habe diesen Krieg bereits seit Jahren gegeben, aber außer vereinzelten solcher Aufnahmen keinen solchen Film. Diese Deutlichkeit und diese Längen seien wichtig, um Bilder nicht zu Effekten zu erniedrigen. Sie hätten dort in Vietnam genau die Bilder gefunden, die sie schon vier Jahre zuvor in Saigon hätten aufnehmen wollen. Der Kameramann Carl-Franz Hutterer sollte ganz genau aufnehmen, wie die Verletzungen aussahen. Auf dem Rückweg nach Mainz hätte dann schon eine Schere im Kopf eingesetzt – sollte man vielleicht eine schlimme durch eine weniger schlimme Einstellung ersetzen? Dem Zuschauer so etwas nicht zuzumuten sei ein ungeschriebenes Gesetzt gewesen. Doch dann hätten sie sich für das Gegenteil entschieden, der Film wurde dann eher länger und statt der weniger schlimmen habe man die schlimmeren Einstellungen genommen. Die Assistentin im Schneideraum, die den Ton anlegen musste, sei irgendwann zusammengebrochen. Er sähe die Bilder heute auch ungeschützt, sie ließen ihn mit Trauer und Zorn zurück. Damals hätten ihn der Dreh und der Schnitt, also die Arbeit, geschützt, heute sei er ein normaler Zuschauer. Er habe ’89 gedacht, dass so ein Film nicht wieder nötig sein würde. Solche Bilder blieben wichtig, da sie zu sehr im Verborgenen gehalten würden, da sei auch eine Politik dahinter. Seit Jahren gäbe es Unmengen von Toten im Irakkrieg, die Bilder, die man sähe, zeigten mal ein ausgebranntes Auto, sonst erführe man nichts. Wo blieben die Verletzten? Es gäbe auch keinen Widerstand dagegen.

Ob er das Schreckliche dadurch aufgefangen habe, dass er über seine Protagonisten weitere Filme gemacht habe? Wäre das eine Möglichkeit gewesen, dieses Schreckliche nicht einfach so stehen zu lassen? In einer Momentaufnahme könne man nicht sehen, was eine Verletzung bedeute, antwortet Grabe. Do Sanh wirkte damals beispielsweise leicht verletzt, einem anderen fehlte das halbe Gesicht. Nach einer OP konnte zweiterer aber ein gutes Leben führen, während Do Sanh Folgeschäden hatte, drogenabhängig wurde, Aids bekam und mit 36 grausam starb. Diese Zerstörung nicht nur eines Körpers sondern eines ganzen Lebens könne man nur zeigen, wenn man dran bliebe. In Wiederbegegnungen könne man auch sehen – hat jemand damals die Wahrheit gesagt, oder sagte er das nur, weil wir es hören wollten? Erst wenn man aufs Ganze schaue, erkenne man die Dimension des Moments, fasst Voss zusammen. Wie habe er denn dieses Konzept von Kontinuität im Fernsehen erkämpfen können? Grabe sagt, als Festangestellter habe er die Möglichkeit gehabt, immer jemanden zu finden, der im zuhörte. Solange man für seine Filme einstehen könne, hörten einem die Leute auch zu. Die Verbindung von öffentlich-rechtlichem Fernsehen und Festanstellung bewerte er in diesem Zusammenhang als sehr hoch. Nach und nach wäre auch sein Standing im Sender besser geworden – doch selbst bei Raimund – ein Jahr davor habe ihn die Zusage des Senders überrascht.

Zwei Filmausschnitte aus Arbeiten über Do Sanh veranlassen Voss, Grabe nach dem „Wert des Bildes“ und dem „Wert des Wortes“ zu fragen. Montage bedeute für ihn, sagt Grabe, man schneide nur, wenn man es müsse. So würde man die Wirklichkeit nicht als zusammengestückelt erleben. Elfi Kreiter gehöre dabei zu den Cutterinnen, die inhaltlich schneiden und nicht vor Augen haben würden, dass man über die Kunst ihrer Schnittarbeit nachdenke solle. „Lieber weniger als viel“ falle ihr da wieder ein, sagt Voss. Erzähle Do Sanh von seinen Erfahrungen, gäbe es keinen Schnitt und keine Illustration mit Bildern. Bei der Gedenkfeier zu seinem Tod wirke nur die Atmosphäre und Grabe tue nichts hinzu. Grabe sagt – ja, wenn er es mal erfolgreich geschafft habe, die Sendelänge zu erweitern, dann nicht als Möglichkeit, um mehr hineinzupacken. Es ginge darum, etwas in angemessener Ruhe darzubieten. Redakteure gingen davon aus, der Zuschauer habe keine Zeit. Er habe es als Kampf für den Zuschauer gesehen, durch Genauigkeit und Nähe Kontakt herzustellen. Wenn Do Sanh von sich auf präzise Weise erzählte, müsse er es nicht zusammenfassen. Auch bei der Gedenkfeier gäbe es eine Länge, sagt Voss, die würde aber nicht durch das ungeschnittene Wort, sondern durch das Bild erzeugt. Es müsse Pausen geben, sagt Grabe, so dass beim Zuschauer ein zweiter Film ablaufen könne, er seine Gedanken mit dem Gesehenen zusammenbringe könne. Die Kunst, die Balance zu finden zwischen einfach „Länge“ und dem, was notwenig sei, habe sicher etwas mit der Auswahl des Materials zu tun, bemerkt jemand aus dem Publikum. Länge allein bringe nichts, stimmt Grabe zu, man müsse die Länge nutzen um zu zeigen, was es brauche. Man gucke als Zuschauer nicht aus der Distanz, sagt Voss, sondern könne sein eigenes Bild mit hineinbringen. Lerne nicht nur eine Lebensgeschichte, sondern einen Menschen kennen.

Welche Aspekte es denn gegeben habe, zu bestimmten Protagonisten zurückzukehren, will Voss wissen. Wenn Dinge in deren Leben passierten, die eine Rückkehr sinnvoll machten, sagt Grabe. Nur aus der Versuchung heraus, einen alten Film auszubeuten, würde er keinen zweiten Film machen.

Filmausschnitte aus Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland (1972) und Mendel lebt (1999) führen zu der Frage nach Grabes Position als Regisseur. Er bringe sich ein und nehme doch die Situation nicht in die Hand. Außerdem äußerten sich die Menschen erstaunlich offen. Im Falle von Schainfeld hätten sehr tiefgehende und schwierige Gespräche hinter ihnen gelegen, sagt Grabe. Beim Dreh zu Mendel lebt hätte er ähnlich wie bei Raimund – ein Jahr davor nichts erarbeiten müssen. Sie hatten Zeit. Als er ihn vor dem ersten gemeinsamen Film kennenlernte, merkte er schnell, dass Schainfeld wunderbar über seine Erfahrungen sprechen konnte. Er war nicht arrogant sondern bescheiden, der Zuschauer wurde nicht belehrt. So fragten sie ihn, ob sie ihn im Zug nach München begleiten dürften, wohin er wegen einer Rentenangelegenheit fahren musste. Sie fuhren von Oslo in das Land, von dem alles Übel ausging, redeten miteinander und vor der Kamera in der Sprache der Peiniger. Ein Interview müsse nicht in bequemer Situation stattfinden und Belastung könne die Intensität fördern, merkt Grabe dazu an. Schainfeld spürte, wie sie an seinen Lippen hingen und dass er an einem Film mitarbeitete, der Wichtigkeit hatte. Voss findet das sehr besonders, dem Protagonisten einfach das Ohr zu leihen, auch hier sei die Entscheidung lieber weniger als viel eine gute. Grabe meint, Archivmaterial zu benutzen sei eine Unart, es wäre, wie dem Protagonisten nicht zu glauben. Der Protagonist sei sein Archivmaterial. Auf die Frage von Peter Ott nach seiner Interaktion in Mendel lebt, wo er sinngemäß zu ihm sage „du musst dich nicht schuldig fühlen“, antwortet Grabe, normalerweise verweigere er den Protagonisten, Trost auszusprechen, das sei eher Aufgabe des Zuschauers. In dem Moment fand er Schainfelds Hadern mit dem Schicksal aber so sinnlos, dass er etwas sagen wollte. Er hätte es ja später auch rausschneiden können – es gehörte aber irgendwie dazu.

Werner Ružičzka merkt an, dass er das Bild- und Raumverständnis, das Grabe mit seiner Kamera offenbare, dem von Hutterer vorziehe. Während Hutterer unter dem Arm der Ärztin ein Bild zu erhaschen versuche wisse Grabe zum Beispiel bei Schainfeld zu Hause, dass er seine Bilder bekommen würde und nicht extra auf etwas zeigen müsse. Grabe sagt, dass ihm das schnelle Drehen ohne Stativ von Hutterer und seine Beweglichkeit damals im Krankenhaus sehr zu Gute gekommen seien. Er wollte damals die Verdeutlichung. Der Zoom auf Schainfeld beim emotionalen Ausbruch im Zug ginge dabei nicht auf Hutterers Kappe sondern auf einen Kameraassi, für den die Drehsituation sehr schwierig gewesen sei. Die Angst vor der Kritik des Chefkameramanns zu Hause im Nacken habe Grabe ihn zu ermuntern versucht, die Kamera einfach mitlaufen zu lassen.

In Bezug auf Ökonomie (Drehverhältnis, Material, Zeit, Pausen) fragt Gabriele Voss, wie er sich denn auf seine Filme vorbereiten würde? Was hieße es zu wissen, was man will? Grabe geht darauf ein, dass man sich im Dokumentarfilm ja auch die Offenheit bewahren müsse, dass alles anders kommen könne. Schainfeld habe er über ein ganz anderes Vorhaben kennengelernt. Eigentlich sollte das Portrait über den ehemaligen KZ-Häftling eine groß angelegte Dokumentation über Spätschäden aus Folter und Inhaftierung im Lager werden. Als klar war, dass er sich darauf beschränken würde, dem Zuschauer eine Person nahe zu bringen, drehten sie auch so blöde, belanglose Szenen wie Schainfeld in Oslo zu Hause, auf der Couch etc. Man wusste ja nicht, wie die Zugfahrt werden würde.

Was er denn als nicht mehr im Dienst stehender Autor für einen Blick auf die Welt habe? Spüre er die Dringlichkeit, etwas zu drehen und zu produzieren, fragt jemand gen Ende aus dem Publikum. Es wäre jetzt sinnlos, zu überlegen, nach Vietnam oder Hiroshima zu fahren, antwortet Grabe. Das würde eine Redaktion ihm nicht mehr bezahlen. Es mache Sinn, sich Leute vor die Kamera zu holen, die einem nah seien. Das habe er immer gemocht. Gerade portraitiere er einen Bauer in Berchtesgaden, einen Sturkopf an zwei Krücken, der nicht mit dem Arbeiten aufhören könne. Nun habe sich ihm ein ehemaliger LKW-Fahrer von Viehtransporten angeschlossen, der bereit war, sich um die Kühe zu kümmern. Er hatte für sich festgestellt, besser klar zu kommen, wenn er die Tiere gut behandle. So etwas tue er zur Zeit auf Grund all seiner Erfahrungen, die er heute habe.